Freitag, 7. April 2023

Die Weisheit

 


Kwaku Ananse betrachtete die Welt und kam zum Schluss, dass die Menschen mit
der ihnen von Gott gegebenen Weisheit sehr unüberlegt und verschwenderisch
umgingen. So entschloss sich Kwaku Ananse, die Weisheit einzusammeln und für
spätere Zeiten aufzuheben.

Kwaku Ananse machte sich also auf den Weg durch die Welt und sammelte jedes
kleinste Stückchen Weisheit ein. Er tat sie vorsichtig in einen großen
Kürbis und füllte ihn bis zum Rand. Vorsichtig legte Kwaku Ananse den Deckel
darauf und band ihn gut fest.

Dann begann Kwaku Ananse darüber nachzudenken, wo er den Kürbis mit der
Weisheit aufbewahren könnte. Kwaku Ananse kam zu dem Entschluss, den Kürbis
mit der Weisheit auf die höchste Palme zu tragen und dort zwischen den Zweigen
zu verstecken. Er würde den Kürbis gut festbinden, und dort oben wäre er so
versteckt, dass ihn niemand sehen könnte. Es würde auch niemand annehmen,
dass die ganze Weisheit der Welt sich auf einer Kokospalme befinden könnte.

Kwaku Ananse band sich also den Kürbis vor den Bauch, hing sich ein langes
Seil über die Schulter und begann, langsam die Palme hinaufzuklettern.
Da der Kürbis sehr groß und sehr schwer war, musste sich Kwaku Ananse
ordentlich anstrengen. Vorsichtig setzt er Bein vor Bein und kletterte
die schwankende Palme immer höher. Er merkte plötzlich, dass sich das Band,
mit dem er den Kürbis vor seinem Bauch angebunden hatte, lockerte. So hielt
er den Kürbis mit zwei seiner Arme fest. Nun war das Klettern aber noch
schwieriger geworden. Er entschloss sich, eine Rastpause einzuschalten.

Plötzlich blickte er hinunter zum Fuß der Palme und sah dort seinen jüngsten
Sohn, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Da wurde er zornig und rief hinunter:
"Warum lachst Du Deinen Vater aus, der sich so anstrengt, die ganze Weisheit
der Welt in Sicherheit zu bringen, Sohn?"

Da lachte der Junge noch mehr und rief zu Kwaku Ananse hinauf:
"Sage mir, Vater, wenn Du die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit bringen
willst, warum trägst Du sie dann vor dem Bauch und nicht auf dem Rücken?
Das wäre doch viel einfacher und bequemer!"

Kwaku Ananse wurde über die frechen Worte seines Sohnes so böse, dass er ohne
zu überlegen einen Arm vom Kürbis nahm, die Hand zur Faust ballte und ihm drohte.

Ehe Kwaku Ananse jedoch noch ein Wort sagen konnte, fühlte er, dass der Kürbis
unter dem Band durch glitt. Mit einem Arm konnte er den Kürbis nicht mehr halten,
und dieser stürzte in die Tiefe. Er prallte auf den harten Boden auf und
zerbrach in tausend Stücke.

Kwaku Ananse blickte wie erstarrt hinunter und sah, wie die ganze Weisheit
der Welt in kleinen Bächen davon floss und begann, langsam in der Erde zu
versickern.

Von allen Seiten kamen die Menschen herbeigelaufen und hielten große und
kleine Holzschalen oder Kürbisse in der Hand. Manche hatten in der Eile auch
nur ein Blatt abgerissen oder auch nur einen Suppenlöffel mitgebracht.

Sie alle versuchten, so viel von der ausfließenden Weisheit zu erwischen,
wie sie nur auffangen konnten. Kwaku Ananse aber, der langsam begann, die Palme
hinunterzuklettern, wusste, dass für ihn selbst kaum ein Restchen übrigbleiben
würde.

So ist es geschehen, dass die Weisheit in der Welt so ungleich verteilt ist.
Die einen haben viel davon und die anderen viel zu wenig.
 
 
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"Es lebte einmal eine weise alte Eule im Wald,
je mehr sie hörte, desto weniger sagte sie,
je weniger sie sagte, desto mehr hörte sie".
Flann O'Brien

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Märchen aus Afrika
 

Sonntag, 2. April 2023

Die letzten Bienen

 Sie schaute sich in ihrem Garten um, in ihrem schönen Garten, in dem
allerlei wuchs und blühte. Viele Bäume, Sträucher, Blumen und ein
bisschen Gemüse hatte sie in all den Jahren angepflanzt sowie einen
Apfelbaum.

 

Doch Bienen konnte sie in den letzten Jahren kaum noch entdecken.
Traurig wandte sie sich an ihren Nachbarn: "Ich kann kaum noch Bienen
entdecken, es werden von Jahr zu Jahr weniger."
"Ach, was nützt alles Jammern", erwiderte der alte Mann, "freuen wir uns
über die Bienen, die noch da sind."
Jedes Jahr freute sie sich über die vielen Blüten an ihrem Apfelbaum und
über die wenigen Bienen, die sie noch an den Blüten entdecken konnte.
Und in jedem Spätsommer freute sie sich über die Apfelernte, die jedoch
inzwischen von Jahr zu Jahr immer geringer ausfiel.
 
Traurig erzählte sie ihrem Nachbarn: "In diesem Jahr fiel die Apfelernte sehr
karg aus. Es sind nicht einmal genug Äpfel, um daraus Apfelmus für den
Winter einzukochen."
"Ach, was nützt alles Jammern", erwiderte er", genießen wir die Äpfel, die
noch da sind."
Als es ein Jahr später gar keine Äpfel mehr zu ernten gab, und sie den Tränen
nahe ihrem Nachbarn davon erzählte, zuckte er nur mit den Schultern:
"Ach, was nützt alles Jammern, genießen wir das, was sonst noch vorhanden
ist."
Äpfel gehörten jetzt nicht mehr dazu. Jedes Jahr wartete sie darauf, dass
die Bienen zurück in ihren Garten kamen, aber sie wartete vergeblich.
Sie hatte gehört, dass die Bienen im ganzen Land vom Aussterben bedroht
waren und darüber war sie sehr traurig.
 
"Wenn die Bienen ganz aussterben, wird es bald im ganzen Land keine
Äpfel mehr geben," gab sie ihrem Nachbarn gegenüber zu bedenken.
Der sah zwar ein, dass das Aussterben der Bienen tragisch war, aber wieder
zuckte er nur mit den Schulter und meinte: "Welchen Sinn ergibt es, darüber
zu jammern? Erfreuen wir uns an dem, was noch da ist."
"Aber bald wird gar nichts mehr da sein, das wir noch ernten könnten",
entgegnete sie ihm leicht verärgert über seine Sorglosigkeit.
"Warum darüber jammern," sagte er "es ist wie es ist".
"Aber die Menschen hätten etwas gegen das Bienensterben unternehmen
müssen", protestierte sie.
"Hätte, hätte...", brummte er im Fortgehen, "dafür ist es jetzt zu spät".
 
Verständnislos sah sie dem alten Mann nach, wie er mit gekrümmtem
Rücken am Ende des Weges abbog und hinter einer Hecke verschwand.
 



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© Ursula Evelyn

Sonntag, 19. März 2023

Der alte Mann und der Hengst

 

Es war einmal ein alter Mann, der zur Zeit Laotses in einem kleinen chinesischen Dorf lebte. Der Mann lebte zusammen mit seinem einzigen Sohn in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes. Ihr einziger Besitz war ein wunderschöner Hengst, um den sie von allen im Dorf beneidet wurden. Es gab schon unzählige Kaufangebote, diese wurden jedoch immer strickt abgelehnt. Das Pferd wurde bei der Erntearbeit gebraucht und es gehörte zur Familie, fast wie ein Freund.

Eines Tages war der Hengst verschwunden. Nachbarn kamen und sagten: "Du Dummkopf, warum hast du das Pferd nicht verkauft? Nun ist es weg, die Ernte ist einzubringen und du hast gar nichts mehr, weder Pferd noch Geld für einen Helfer. Was für ein Unglück!" Der alte Mann schaute sie an und sagte nur: "Unglück - Mal sehen, denn wer weiß? Das Leben geht seinen eigenen Weg, man soll nicht urteilen und kann nur vertrauen."

Das Leben musste jetzt ohne Pferd weitergehen und da gerade Erntezeit war, bedeutete das unheimliche Anstrengungen für Vater und Sohn. Es war fraglich, ob sie es schaffen würden, die ganze Ernte einzubringen.

Ein paar Tage später war der Hengst wieder da, und mit ihm war ein Wildpferd gekommen, das sich dem Hengst angeschlossen hatte. Jetzt waren die Leute im Dorf begeistert. "Du hast recht gehabt", sagten sie zu dem alten Mann. Das Unglück war in Wirklichkeit ein Glück. Dieses herrliche Wildpferd als Geschenk des Himmels, nun bist du ein reicher Mann..." Der Alte sagte nur: "Glück - Mal sehen, denn wer weiß? Das Leben geht seinen eigenen Weg, man soll nicht urteilen und kann nur vertrauen."

Die Dorfbewohner schüttelten den Kopf über den wunderlichen Alten. Warum konnte er nicht sehen, was für ein unglaubliches Glück ihm widerfahren war? Am nächsten Tag begann der Sohn des alten Mannes, das neue Wildpferd zu zähmen und zuzureiten. Beim ersten Ausritt warf ihn dieses so heftig ab, dass er sich beide Beine brach. Die Nachbarn im Dorf versammelten sich und sagten zu dem alten Mann: "Du hast recht gehabt. Das Glück hat sich als Unglück erwiesen, dein einziger Sohn ist jetzt ein Krüppel. Und wer soll nun auf deine alten Tage für dich sorgen?' Aber der Alte blieb gelassen und sagte zu den Leuten im Dorf:

"Unglück - Mal sehen, denn wer weiß? Das Leben geht seinen eigenen Weg,
man soll nicht urteilen und kann nur vertrauen."

Es war jetzt alleine am alten Mann, die restliche Ernte einzubringen. Zumindest war das neue Pferd soweit gezähmt dass er es als zweites Zugtier für den Pflug nutzen konnte. Mit viel Schweiß und Arbeit bis in die Dunkelheit sicherte er das Auskommen für sich und seinen Sohn.

Ein paar Wochen später begann ein Krieg. Der König brauchte Soldaten, und alle wehrpflichtigen jungen Männer im Dorf wurden in die Armee gezwungen. Nur den Sohn des alten Mannes holten sie nicht ab, denn den konnten sie an seinen Krücken nicht gebrauchen. "Ach, was hast du wieder für ein Glück gehabt!"' riefen die Leute im Dorf.

Der Alte sagte: "Mal sehen, denn wer weiß?
Aber ich vertraue darauf, dass das Glück am Ende bei dem ist, der vertrauen kann."
 
(Verfasser leider unbekannt)
 

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Bild: Pixabay
 

Dienstag, 14. März 2023

Nichts ist wie es scheint

 
Zwei reisende Engel machten Halt, um die Nacht im Hause einer wohlhabenden
Familie zu verbringen. Die Familie war unhöflich und verweigerte den Engeln,
im Gästezimmer des Haupthauses auszuruhen. Anstelle dessen bekamen sie
einen kleinen Platz im kalten Keller.

Als sie sich auf dem harten Boden ausstreckten, sah der ältere Engel ein Loch in der Wand
und reparierte es. Als der jüngere Engel fragte, warum, antwortete der ältere Engel:
"Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen."



In der nächsten Nacht rasteten die beiden im Haus eines sehr armen,
aber gastfreundlichen Bauern und seiner Frau. Nachdem sie das wenige Essen,
das sie hatten, mit ihnen geteilt hatten, ließen sie die Engel in ihrem Bett schlafen,
wo sie gut schliefen.
Als die Sonne am nächsten Tag den Himmel erklomm, fanden die Engel
den Bauern und seine
Frau in Tränen. Ihre einzige Kuh, deren Milch ihr alleiniges Einkommen gewesen war,
lag tot auf dem Feld.


Der jüngere Engel wurde wütend und fragte den älteren Engel, wie er das habe
geschehen lassen können?

"Der erste Mann hatte alles, trotzdem halfst du ihm",
meinte er anklagend. "Die zweite Familie hatte wenig, und du ließest die Kuh sterben."
 "Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen", sagte der ältere Engel.
"Als wir im kalten Keller des Haupthauses ruhten, bemerkte ich, dass Gold in diesem Loch
in der Wand steckte. Weil der Eigentümer so von Gier besessen war und sein
glückliches Schicksal nicht teilen wollte, versiegelte ich die Wand, sodass er es nicht finden konnte.

Als wir dann in der letzten Nacht im Bett des Bauern schliefen, kam der Engel des Todes,
um seine Frau zu holen.  Ich gab ihm die Kuh anstatt dessen.
"Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen."


Manchmal ist das genau das, was passiert, wenn die Dinge sich nicht als das entpuppen,
was sie sollten.
Wenn du Vertrauen hast, musst du dich bloß darauf verlassen,
dass jedes Ergebnis zu deinem Vorteil ist.
Du magst es nicht bemerken, bevor ein bisschen Zeit vergangen ist ...

(von lichtwerk)
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Samstag, 11. März 2023

Der Suchende

 

Es war einmal ein Suchender.
Er suchte nach einer Lösung für sein Problem,
konnte sie aber nicht finden.
Er suchte immer heftiger, immer verbissener,
immer schneller und fand sie doch nirgends.
Die Lösung ihrerseits war inzwischen schon ganz außer Atem.
Es gelang ihr einfach nicht, den Suchenden einzuholen,
bei dem Tempo, mit dem er hin- und herrannte,
ohne auch nur einmal zu verschnaufen oder sich umzusehen.

Eines Tages brach der Suchende mutlos zusammen,
setzte sich auf einen Stein, legte den Kopf in die Hände und
wollte sich eine Weile ausruhen.
Die Lösung, die schon gar nicht mehr daran geglaubt hatte,
dass der Suchende einmal anhalten würde,
stolperte mit voller Wucht über ihn!
Und er fing auf, was da so plötzlich über ihn hereinbrach
und entdeckte erstaunt,
dass er seine Lösung in Händen hielt.

(Verfasser unbekannt)


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Freitag, 3. März 2023

Ein Waldmärchen

  Was ist Leben ?
Um diese Frage geht es heute am Waldesrand.

 
  
An einem schönen Sommertag um die Mittagszeit war große Stille am Waldesrand.
Die Vögel hatten ihre Köpfe unter die Flügel gesteckt und alles ruhte.
Da streckte ein Buchfink sein Köpfchen hervor und fragte:
"Was ist eigentlich das Leben?"
Alle waren betroffen über diese schwierige Frage. Im großen Bogen flog der Buchfink über die weite Wiese und kehrte zu seinem Ast im Schatten des Baumes zurück.
Die Heckenrose entfaltete gerade ihre Knospe und schob behutsam ein Blatt ums andere heraus. Sie sprach: "Das Leben ist eine Entwicklung."
Weniger tief veranlagt war der Schmetterling. Er flog von einer Blume zur anderen, naschte da und dort und sagte: "Das Leben ist lauter Freude und Sonnenschein."
Drunten im Gras mühte sich eine Ameise mit einem Strohhalm. zehnmal länger als sie selbst, und sagte: "Das Leben ist nichts anderes als Mühsal und Arbeit."


Geschäftig kam eine Biene von einer honighaltenden Blume auf der Wiese zurück und meinte dazu: "Nein, das Leben ist ein Wechsel von Arbeit und Vergnügen."
Wo so weise Reden geführt wurden, steckte auch der Maulwurf seinen Kopf aus der Erde und brummte: "Das Leben? Es ist ein Kampf im Dunkeln."
Nun hätte es fast einen Streit gegeben, wenn nicht ein feiner Regen eingesetzt hätte, der sagte: "Das Leben besteht aus Tränen, nichts als Tränen." Dann zog er weiter zum Meer. Dort brandeten die Wogen und warfen sich mit aller Gewalt gegen die Felsen und stöhnten: "Das Leben ist ein stets vergebliches Ringen nach Freiheit."
Hoch über ihnen zog majestätisch der Adler seine Kreise. Er frohlockte: "Das Leben, das Leben ist ein Streben nach oben." Nicht weit vom Ufer stand eine Weide. Sie hatte der Sturm schon zur Seite gebogen. Sie sagte: "Das Leben ist ein Sichbeugen unter einer höheren Macht."
Dann kam die Nacht. Mit lautlosen Flügeln glitt der Uhu über die Wiese dem Wald zu und krächzte: "Das Leben heißt: die Gelegenheit nutzen, wenn andere schlafen."
Und schließlich wurde es still in Wald und auf der Wiese.
Nach einer Weile kam ein junger Mann des Weges. Er setzte sich müde ins Gras, streckte dann alle viere von sich und meinte erschöpft vom vielen Tanzen und Trinken:
"Das Leben ist das ständige Suchen nach Glück und eine lange Kette von Enttäuschungen."
Auf einmal stand die Morgenröte in ihrer vollen Pracht auf und sprach:
 Wie ich, die Morgenröte, der Beginn des neuen Tags bin,
so ist das Leben der Anbruch der Ewigkeit."
 

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(Autor leider unbekannt)
Bild: Pixabay
 

Samstag, 25. Februar 2023

Das Hemd des Glücklichen

 

Ein König war krank und sagte: "Die Hälfte des Reiches gebe ich dem,
der mich gesund macht". Da versammelten sich alle Weisen und überlegten,
wie man den König gesund machen könne. Doch keiner wusste wie.
Nur einer der Weisen sagte, dass es möglich sei, den Herrscher zu heilen.
Er meinte: "Man muss einen glücklichen Menschen ausfindig machen,
dem das Hemd ausziehen und es dem König anziehen.
Dann wird der König gesund".

Und der König schickte überall hin, dass man in seinem weiten Reich
einen glücklichen Menschen suche. Aber die Beauftragten fuhren lange
im ganzen Reich umher und konnten keinen Glücklichen finden.
Nicht einen gab es, der zufrieden war. Wer reich war, war krank;
wer gesund war, war arm; wer gesund und reich war, der hatte ein
böses Weib, und bei dem und jenem stimmte es mit den Kindern nicht.
Über irgendetwas beklagten sich alle.

Aber einmal ging der Sohn des Königs spätabends an einer armseligen
Hütte vorbei und hörte jemanden sagen: "Gottlob, zu tun gab es heute
wieder genug, satt bin ich auch und lege mich nun schlafen.
Was braucht es mehr?"
Der Königssohn freute sich, befahl seinen Dienern, diesem Menschen
das Hemd auszuziehen und ihm dafür soviel Geld zu geben, wie er wolle,
und das Hemd gleich dem König zu bringen. Die Diener gingen eilends
zu dem glücklichen Menschen hin und wollten ihm das Hemd ausziehen.
Aber der Glückliche war so arm, dass er nicht einmal ein Hemd besaß!
 
Leo N. Tolstoi
 
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Bild: Pixabay