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Mittwoch, 24. Januar 2024

Die Wassernixe

Ein Märchen der Brüder Grimm
 

Ein Brüderchen und ein Schwesterchen spielten an einem Brunnen,
und wie sie so spielten, plumpsten sie beide hinein. Da war unten
eine Wassernixe, die sprach "jetzt habe ich euch, jetzt sollt ihr
mir brav arbeiten"' und führte sie mit sich fort. Dem Mädchen gab
sie verwirrten garstigen Flachs zu spinnen, und es musste Wasser
in ein hohles Fass schleppen, der Junge aber sollte einen Baum mit
einer stumpfen Axt hauen, und nichts zu essen bekamen sie als
steinharte Klöße. Da wurden zuletzt die Kinder so ungeduldig,
dass sie warteten, bis eines Sonntags die Nixe in der Kirche war,
da entflohen sie. Und als die Kirche vorbei war, sah die Nixe,
dass die Vögel ausgeflogen waren, und setzte ihnen mit großen
Sprüngen nach. Die Kinder erblickten sie aber von weitem, und das
Mädchen warf eine Bürste hinter sich, das gab einen großen
Bürstenberg mit tausend und tausend Stacheln, über den die Nixe
mit großer Müh klettern musste; endlich aber kam sie doch hinüber.
Wie das die Kinder sahen, warf der Knabe einen Kamm hinter sich,
das gab einen großen Kammberg mit tausendmal tausend Zinken, aber
die Nixe wusste sich daran festzuhalten und kam zuletzt doch drüber.
Da warf das Mädchen einen Spiegel hinterwärts, welches einen
Spiegelberg gab, der war so glatt, so glatt, dass sie unmöglich
darüber konnte. Da dachte sie 'ich will geschwind nach Haus gehen
und meine Axt holen und den Spiegelberg entzweihauen.' Bis sie
aber wiederkam und das Glas aufgehauen hatte, waren die Kinder
längst weit entflohen, und die Wassernixe musste sich wieder in
ihren Brunnen trollen.
 
 
 
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Bild: Pixabay
 

Donnerstag, 20. Juli 2023

Die Steinpalme

 


Er kam durch die Wüste. Tagelang war er umhergeirrt, vor Durst und Hitze
hatte er fast den Verstand verloren. In seinem Zorn griff er nach einem großen Stein.
Da sah er zwischen lauter großgewachsenen Palmen den Palmschössling stehen,
in hellem Grün und voller Hoffnung auf jeden neuen Tag. „Warum findest du Wasser
und Nahrung und ich verdurste hier?
Warum hast du alles und ich nichts?“ Mit aller Kraft presste er den Stein mitten ins
kleine Kronenherz des jungen Baumes. Es knirschte und dann kam eine entsetzliche
Stille.  Der Mann wurde kurz darauf von Kameltreibern gerettet. Die kleine Palme
allerdings war  unter der Last des Steines fast begraben, ihr Tod schien unausweichlich.
Ihre hellgrünen Fächerblätter waren abgebrochen, und in der heißen Glut der Sonne
verdorrten sie schnell. Ihr weiches Palmenherz war gequetscht und der große Stein
lastete so schwer auf
dem zierlichen Stamm, dass dieser bei jedem Windhauch abzubrechen drohte. Doch
gleichzeitig, ganz vorsichtig, regte sich eine erste kleine Welle der Kraft. Mit dieser
Kraft versuchte der Baum den Stein abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Er bat den
Wind ihm zu helfen, aber es gab keine Hilfe. Der Stein blieb in der Krone, im Herzen der
Palme und rührte sich nicht.
„Gib es auf“, sagte die Palme zu sich selbst. „Es ist dein Schicksal. Füge dich! Lass
dich selber los. Der Stein ist zu schwer“. Aber da war eine andere Stimme, die sagte:
„Nein, nichts ist zu schwer. Du musst es nur versuchen, du musst es tun!“ „Aber wie?
Ich bin zu schwach, ich bin allein, ich kann den Stein nicht abwerfen.“ „Du musst den
Stein nicht abwerfen. Nimm die Last des Steines an, dann wirst du erleben, wie deine
Kräfte wachsen. “ In ihrer Not gelang es der jungen Palme tatsächlich, ihre Last anzu-
nehmen.
Sie verschwendete keine Kraft mehr an das Bemühen, den Stein abzuschütteln. Sie
nahm ihn in die Mitte ihrer Krone. Mit langen, immer kräftigeren Wurzeln klammerte
sie sich in den Boden, denn sie brauchte mit ihrer doppelten Last auch doppelten Halt.
Nun, da die Palme festen Halt und Nahrung hatte, begann sie nach oben zu wachsen.
So wurde die kleine Palme zur mächtigen Steinpalme. Ihre Last hatte sie herausgefordert
und sie hatte den Kampf gewonnen. Sie hatte ihre Last angenommen. Die Last liegt auch
heute noch auf ihrem Herzen, aber sie ist an eine Stelle gerückt, wo sie sie tragen kann.


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 Märchen aus Afrika
 

Mittwoch, 26. April 2023

Das geflickte Herz - ein Märchen

für Erwachsene

  Es war einmal ein König, der lebte mit seiner Frau Gemahlin

auf einer fernen Insel, die sich unter ganzjährigem Sonnenschein

aus einem türkisfarbenen Ozean erhob.

Der König fühlte sich oft einsam, weil seine Frau Gemahlin

sich immer öfter auf lange Reisen in ferne Länder begab.

Als der König sich wieder einmal sehr einsam fühlte,

beschloss er, ein großes Fest zu feiern.

Dazu lud er viele seiner Untertanen sowie eine junge Frau ein,

die ihm schon seit einiger Zeit aufgefallen war.

Sie lebte schon seit vielen Jahren auf der Insel, die

zu ihrer zweiten Heimat geworden war.

Und so begab es sich, dass sie an diesem festlichen Abend

dem König begegnen sollte, der sich auf Anhieb in die

junge Frau verliebte. Nach dem Abendessen führte er sie durch

den weitläufigen Tropengarten, in dem unzählige Zikaden ihr nächtliches

Konzert angestimmt hatten und über dem Abermillionen

Sterne am pechschwarzen Himmel funkelten.

Auch die junge Frau war vom König und seiner Art,

wie er um ihre Gunst warb, angetan.

Später, als er sie um einen Tanz bat und seine Arme um sie legte,

war es auch um ihr Herz geschehen.

Nun verliebte auch sie sich in den König. Von nun an verbrachten

sie sehr viel Zeit miteinander und gingen gemeinsam auf Reisen.

Sie waren so glücklich, wie zwei liebende Menschen

es nur sein konnten. Und weil sie sich so sehr liebten,

schenkte die junge Frau dem König ihr Herz.

 Die Jahre vergingen und sie liebten einander so sehr,

dass sie nie mehr ohne den anderen sein wollten.

Doch dann kam der Tag, an dem die Königin

von der Liebschaft ihres Gemahls erfuhr. In ihrem Zorn unternahm

sie alles, um die beiden Liebenden zu trennen.

Als sie sich wieder einmal auf einer ihrer langen Reisen

befand, drohte sie dem König aus der Ferne, erst dann wieder

zurückzukehren, wenn die junge Frau die Insel verlassen hatte.

Der König litt sehr unter der Vorstellung, seine junge Geliebte

zu verlieren. Doch er wusste, dass er sich nun entweder für sie

oder die Königin und sein Königreich würde entscheiden müssen.

Weil ihm aber auch sein Königreich und seine Untertanen, die

ihn sehr verehrten, am Herzen lag, konnte er sich nicht überwinden,

eine Entscheidung zu treffen.

Er war sehr verzweifelt und das Herz war ihm schwer.

Und so kam es, dass die junge Frau schweren Herzens

eine Entscheidung für ihn traf.

Sie fasste den Entschluss, den König und die Insel, die in all den

Jahren zu ihrer zweiten Heimat geworden war, zu verlassen und

in ihre alte Heimat zurückzukehren.

Sie konnte in dem Augenblick nicht ahnen, dass ihr Herz von

nun an Stück für Stück aus ihrem Körper gerissen wurde.

Und je weiter sie sich von ihrem Geliebten und der Insel entfernte,

desto unerträglicher wurde der Schmerz.

Wie sollte sie ohne Herz weiterleben?

Eine große, tiefe Wunde begann sich aufzutun.

Der Schmerz saß so tief, dass die junge Frau daran zu zerbrechen drohte.

Doch der König weigerte sich, ihr das Herz zurückzugeben.

Er reiste ihr sogar nach und wollte sie zurückholen,

doch sie besaß keine Kraft mehr und sie fürchtete seine Gemahlin

würde ihnen das Leben wieder zur Hölle machen. Das wollte sie nicht

noch einmal erleben. Der König jedoch umklammerte ihr Herz so fest,

dass sie keine Luft mehr bekam und zu ersticken drohte.

Er wollte ohne ihr Herz nicht mehr leben.

Und so geschah es, dass er kaum in sein Königreich zurückgekehrt,

schließlich an seinem eigenen gebrochenen Herzen starb.

Als die junge Frau von seinem Tod erfuhr, drohte auch sie zu sterben,

weil er ihr Herz mit in den Tod genommen hatte.

Dort, wo einst ihr Herz war, hatte er eine große, schmerzende Wunde

hinterlassen, die nicht mehr heilen wollte.

Nun drohte auch sie an gebrochenem Herzen zu sterben, wären ihr nicht

gute Freunde im letzten Moment zu Hilfe geeilt.

Jeder von ihnen schenkte der jungen Frau ein kleines Stück

ihrer eigenen Herzen, sodass aus diesen kleinen Herzstücken

ein neues Herz zusammengeflickt werden konnte.

Und während sich ihr Herz, das sie an den König verloren hatte,

mit seiner Seele auf einer unendlichen Reise durch die

Ewigkeit befand, begann das geflickte Herz wieder ganz

zaghaft zu schlagen.

Die Jahre vergingen. Die vielen kleinen Flicken waren längst

zusammengewachsen und die Wunde verheilt. Nur eine große

Narbe ist zurückgeblieben, die sie für den Rest ihres Lebens

an ihre große Liebe erinnern würde.

Für die einstige Geliebte des Königs jedoch,

hatte ein neues Leben begonnen.

 

Und wenn das geflickte Herz nicht aufgehört hat zu schlagen,

so schlägt es auch noch heute.

 

 

©  Ursula Evelyn 1993


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Schicksal ist, wenn sich zwei Menschen finden,

die sich nie gesucht haben.

(unbekannt)
 
 
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Freitag, 7. April 2023

Die Weisheit

 


Kwaku Ananse betrachtete die Welt und kam zum Schluss, dass die Menschen mit
der ihnen von Gott gegebenen Weisheit sehr unüberlegt und verschwenderisch
umgingen. So entschloss sich Kwaku Ananse, die Weisheit einzusammeln und für
spätere Zeiten aufzuheben.

Kwaku Ananse machte sich also auf den Weg durch die Welt und sammelte jedes
kleinste Stückchen Weisheit ein. Er tat sie vorsichtig in einen großen
Kürbis und füllte ihn bis zum Rand. Vorsichtig legte Kwaku Ananse den Deckel
darauf und band ihn gut fest.

Dann begann Kwaku Ananse darüber nachzudenken, wo er den Kürbis mit der
Weisheit aufbewahren könnte. Kwaku Ananse kam zu dem Entschluss, den Kürbis
mit der Weisheit auf die höchste Palme zu tragen und dort zwischen den Zweigen
zu verstecken. Er würde den Kürbis gut festbinden, und dort oben wäre er so
versteckt, dass ihn niemand sehen könnte. Es würde auch niemand annehmen,
dass die ganze Weisheit der Welt sich auf einer Kokospalme befinden könnte.

Kwaku Ananse band sich also den Kürbis vor den Bauch, hing sich ein langes
Seil über die Schulter und begann, langsam die Palme hinaufzuklettern.
Da der Kürbis sehr groß und sehr schwer war, musste sich Kwaku Ananse
ordentlich anstrengen. Vorsichtig setzt er Bein vor Bein und kletterte
die schwankende Palme immer höher. Er merkte plötzlich, dass sich das Band,
mit dem er den Kürbis vor seinem Bauch angebunden hatte, lockerte. So hielt
er den Kürbis mit zwei seiner Arme fest. Nun war das Klettern aber noch
schwieriger geworden. Er entschloss sich, eine Rastpause einzuschalten.

Plötzlich blickte er hinunter zum Fuß der Palme und sah dort seinen jüngsten
Sohn, der sich vor Lachen den Bauch hielt. Da wurde er zornig und rief hinunter:
"Warum lachst Du Deinen Vater aus, der sich so anstrengt, die ganze Weisheit
der Welt in Sicherheit zu bringen, Sohn?"

Da lachte der Junge noch mehr und rief zu Kwaku Ananse hinauf:
"Sage mir, Vater, wenn Du die ganze Weisheit der Welt in Sicherheit bringen
willst, warum trägst Du sie dann vor dem Bauch und nicht auf dem Rücken?
Das wäre doch viel einfacher und bequemer!"

Kwaku Ananse wurde über die frechen Worte seines Sohnes so böse, dass er ohne
zu überlegen einen Arm vom Kürbis nahm, die Hand zur Faust ballte und ihm drohte.

Ehe Kwaku Ananse jedoch noch ein Wort sagen konnte, fühlte er, dass der Kürbis
unter dem Band durch glitt. Mit einem Arm konnte er den Kürbis nicht mehr halten,
und dieser stürzte in die Tiefe. Er prallte auf den harten Boden auf und
zerbrach in tausend Stücke.

Kwaku Ananse blickte wie erstarrt hinunter und sah, wie die ganze Weisheit
der Welt in kleinen Bächen davon floss und begann, langsam in der Erde zu
versickern.

Von allen Seiten kamen die Menschen herbeigelaufen und hielten große und
kleine Holzschalen oder Kürbisse in der Hand. Manche hatten in der Eile auch
nur ein Blatt abgerissen oder auch nur einen Suppenlöffel mitgebracht.

Sie alle versuchten, so viel von der ausfließenden Weisheit zu erwischen,
wie sie nur auffangen konnten. Kwaku Ananse aber, der langsam begann, die Palme
hinunterzuklettern, wusste, dass für ihn selbst kaum ein Restchen übrigbleiben
würde.

So ist es geschehen, dass die Weisheit in der Welt so ungleich verteilt ist.
Die einen haben viel davon und die anderen viel zu wenig.
 
 
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"Es lebte einmal eine weise alte Eule im Wald,
je mehr sie hörte, desto weniger sagte sie,
je weniger sie sagte, desto mehr hörte sie".
Flann O'Brien

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Märchen aus Afrika
 

Samstag, 25. Februar 2023

Das Hemd des Glücklichen

 

Ein König war krank und sagte: "Die Hälfte des Reiches gebe ich dem,
der mich gesund macht". Da versammelten sich alle Weisen und überlegten,
wie man den König gesund machen könne. Doch keiner wusste wie.
Nur einer der Weisen sagte, dass es möglich sei, den Herrscher zu heilen.
Er meinte: "Man muss einen glücklichen Menschen ausfindig machen,
dem das Hemd ausziehen und es dem König anziehen.
Dann wird der König gesund".

Und der König schickte überall hin, dass man in seinem weiten Reich
einen glücklichen Menschen suche. Aber die Beauftragten fuhren lange
im ganzen Reich umher und konnten keinen Glücklichen finden.
Nicht einen gab es, der zufrieden war. Wer reich war, war krank;
wer gesund war, war arm; wer gesund und reich war, der hatte ein
böses Weib, und bei dem und jenem stimmte es mit den Kindern nicht.
Über irgendetwas beklagten sich alle.

Aber einmal ging der Sohn des Königs spätabends an einer armseligen
Hütte vorbei und hörte jemanden sagen: "Gottlob, zu tun gab es heute
wieder genug, satt bin ich auch und lege mich nun schlafen.
Was braucht es mehr?"
Der Königssohn freute sich, befahl seinen Dienern, diesem Menschen
das Hemd auszuziehen und ihm dafür soviel Geld zu geben, wie er wolle,
und das Hemd gleich dem König zu bringen. Die Diener gingen eilends
zu dem glücklichen Menschen hin und wollten ihm das Hemd ausziehen.
Aber der Glückliche war so arm, dass er nicht einmal ein Hemd besaß!
 
Leo N. Tolstoi
 
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Bild: Pixabay

Freitag, 10. Februar 2023

Der goldene Schlüssel

 
 
Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge
hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun
zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch
nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bisschen
wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte,
fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel
wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub in der Erde und fand ein
eisernes Kästchen. Wenn der Schlüssel nur passt! dachte er, es sind gewiss
kostbare Sachen in dem Kästchen. Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da,
endlich entdeckte er eins, aber so klein, dass man es kaum sehen konnte.
Er probierte, und der Schlüssel passte glücklich. Da drehte er einmal herum,
und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen, und den Deckel
aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen
in dem Kästchen lagen.

Gebr. Grimm
 
 
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Bild: Pixabay
 

Mittwoch, 4. Januar 2023

Von den zwölf Monaten

 

Es war eine Mutter, und die hatte zwei Töchter; die eine war ihre eigne, die andere ihre Stieftochter. Die eigne Tochter hatte sie sehr lieb, die Stieftochter konnte sie nicht einmal ansehen, bloß darum, weil Maruschka schöner war, als Holena. Die gute Maruschka wusste von ihrer Schönheit nichts; sie konnte sich gar nicht erklären, warum die Mutter so böse sei, so oft sie sie ansehe. Alle Arbeit musste sie selbst verrichten: die Stube aufräumen, kochen, waschen, nähen, spinnen, weben, Gras zutragen und die Kuh allein besorgen. Holena putzte sich nur und ging müßig. Aber Maruschka arbeitete gern, war geduldig, und ertrug das Schelten, das Fluchen der Schwester und Mutter wie ein Lamm. Allein dies half nichts, sie wurden von Tag zu Tag schlimmer, und zwar bloß darum, weil Maruschka je länger, desto schöner, Holena desto garstiger ward. Die Mutter dachte: »Wozu sollt' ich die schöne Stieftochter im Hause leiden, wenn meine eigene Tochter nicht auch so ist? Die Bursche werden auf Brautschau kommen Maruschka wird ihnen gefallen, Holena werden sie nicht haben wollen!« Von diesem Augenblicke an suchten sie der armen Maruschka loszuwerden; sie quälten sie mit Hunger, sie schlugen sie, doch sie ertrug's geduldig und ward von Tag zu Tag schöner. Sie ersannen Qualen, wie sie braven Menschen gar nicht in den Sinn gekommen wären.

Eines Tages – es war in der Mitte des Eismonats – wollte Holena Veilchen haben.

 »Geh', Maruschka, bring' mir aus dem Walde einen Veilchenstrauß! Ich will ihn hinter den Gürtel stecken und an ihn riechen!« befahl sie der Schwester.

»Ach Gott, liebe Schwester, was fällt Dir bei! Hab' nie gehört dass unter dem Schnee Veilchen wüchsen,« versetzte das arme Mädchen.

»Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte, Du widersprichst, wenn ich befehle? Gleich wirst Du in den Wald gehen, und bringst Du keine Veilchen, so schlag' ich Dich tot!« drohte Holena.

Die Stiefmutter fasste Maruschka, stieß sie zur Thür hinaus, und schloss diese hinter ihr. Das Mädchen ging bitter weinend in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Die Arme irrte, irrte lange. Hunger plagte sie. Kälte schüttelte sie; sie bat Gott, er möchte sie lieber aus der Welt nehmen. Da gewahrt sie in der Ferne ein Licht. Sie geht dem Glanze nach und kommt auf den Gipfel eines Berges. Auf dem Gipfel brannte ein großes Feuer, um das Feuer lagen zwölf Steine, auf den Steinen saßen zwölf Männer. Drei waren graubärtig, drei waren jünger, drei waren noch jünger, und die drei jüngsten waren die schönsten. Sie redeten nichts, sie blickten still in das Feuer. Die zwölf Männer waren die zwölf Monate. Der Eismonat saß obenan; der hatte Haare und Bart weiß wie Schnee. In der Hand hielt er einen Stab, Maruschka erschrak, und blieb eine Weile verwundert stehen; dann aber fasste sie Mut, trat näher und bat:

»Liebe Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, Kälte schüttelt mich!«

Der Eismonat nickte mit dem Haupte und fragte sie: »Weshalb bist Du hergekommen, Mädchen? Was suchst Du hier?«

»Ich suche Veilchen,« antwortete Maruschka.

»Es ist nicht an der Zeit, Veilchen zu suchen, wenn Schnee liegt,«  sagte der Eismonat.

»Ich weiß wohl,« entgegnete Maruschka traurig, »allein Schwester Holena und die Stiefmutter haben mir befohlen, Veilchen aus dem Walde zu bringen; bring' ich sie nicht, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde?«

Da erhob sich der Eismonat, schritt zu dem jüngsten Monat, gab ihm den Stab in die Hand, und sprach: »Bruder März, setz' Dich obenan!«

Der Monat März setzte sich obenan und schwang den Stab über dem Feuer. In dem Augenblicke loderte das Feuer höher, der Schnee begann zu tauen, Bäume trieben Knospen, unter den Buchen grünte Gras, in dem Grase keimten bunte Blumen und es war Frühling. Unter Gesträuch verborgen blühten Veilchen, und eh' sich Maruschka dessen versah, gab es ihrer so viele, als ob wer ein blaues Tuch ausgebreitet hätte.

»Schnell, Maruschka, pflücke!« gebot der März.

Maruschka pflückte freudig, bis sie einen großen Strauß beisammen hatte. Dann dankte sie den Monaten und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie Maruschka sahen, wie sie einen Veilchenstrauß trug; sie gingen, ihr die Tür zu öffnen, und der Duft der Veilchen ergoss sich durch die ganze Hütte.

»Wo hast Du sie gepflückt?« fragte Holena störrig.

»Hoch auf dem Berge, dort wuchsen ihrer unter Gesträuch in Menge,« erwiderte Maruschka.

Holena nahm die Veilchen, steckte sie hinter den Gürtel, roch an sie, und ließ die Mutter riechen; zur Schwester sagte sie nicht einmal: »Riech auch!«

Des andern Tages saß Holena müßig beim Ofen, und es gelüstete sie nach Erdbeeren. »Geh', Maruschka, bring' mir Erdbeeren aus dem Walde!« befahl Holena der Schwester.

»Ach Gott, liebe Schwester, wo werd' ich Erdbeeren finden! Hab' nie gehört, dass unter dem Schnee Erdbeeren wüchsen,« versetzte Maruschka.

»Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte, Du widersprichst, wenn ich befehle? Gleich geh' in den Wald, und bringst Du keine Erdbeeren, wahrlich, so schlag' ich Dich tot!« drohte die böse Holena.

Die Stiefmutter fasste Maruschka, stieß sie zur Thür hinaus, und schloss diese fest hinter ihr. Das Mädchen ging bitter weinend in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Die Arme irrte, irrte lange: Hunger plagte sie, Kälte schüttelte sie. Da gewahrt sie in der Ferne dasselbe Feuer, das sie den Tag zuvor gesehen. Mit Freuden eilte sie darauf zu. Sie kam wieder zu dem großen Feuer, um welches die zwölf Monate saßen. Der Eismonat saß obenan.

»Liebe Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, Kälte schüttelt mich,« bat Maruschka.

Der Eismonat nickte mit dem Haupte und fragte: »Warum bist Du wieder gekommen, was suchst Du?«

»Ich suche Erdbeeren,« entgegnete Maruschka.

»Es ist nicht an der Zeit, Erdbeeren zu suchen, wenn Schnee liegt,« sagte der Eismonat.

»Ich weiß wohl,« antwortete Maruschka traurig, »allein Schwester Holena und meine Stiefmutter haben mir befohlen, Erdbeeren zu bringen; bring' ich sie nicht, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde!«

Der Eismonat erhob sich, schritt zum Monat, der ihm gegenüber saß, gab ihm den Stab in die Hand und sprach: »Bruder Juni, setz' Dich obenan!«

Der schöne Monat Juni setzte sich obenan, und schwang den Stab über dem Feuer. In dem Augenblicke schlug die Flamme hoch empor, der Schnee zerschmolz alsbald, die Erde grünte, Bäume umhüllten sich mit Laub, Vögel begannen zu singen, mannigfaltige Blumen blühten im Walde und es war Sommer. Weiße Sternlein gab es, als ob sie wer dahin gesät hätte. Sichtbar aber verwandelten sich die weißen Sternlein in Erdbeeren, die Erdbeeren reiften schnell, und eh' sich Maruschka dessen versah, gab es ihrer in dem grünen Rasen, als ob wer Blut ausgegossen hätte.

»Schnell, Maruschka, pflücke!« gebot der Juni.

Maruschka pflückte freudig, bis sie die Schürze voll hatte. Dann dankte sie den Monaten schön, und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie sahen, dass Maruschka in der That Erdbeeren bringe, die ganze Schürze voll. Sie liefen, ihr die Tür zu öffnen, und der Duft der Erdbeeren ergoss sich durch die ganze Hütte.

»Wo hast Du sie gepflückt?« fragte Holena störrig.

»Hoch auf dem Berge, dort wachsen ihrer in Fülle unter den Buchen,« erwiderte Maruschka.

Holena nahm die Erdbeeren, aß sich satt, und gab auch der Mutter zu essen; zu Maruschka sagten sie nicht einmal: »Kost' auch!«

Holena hatten die Erdbeeren geschmeckt, und es gelüstete sie des dritten Tages nach roten Äpfeln.

»Geh' in den Wald, Maruschka, und bring' mir rote Äpfel!« befahl sie der Schwester.

»Ach Gott, liebe Schwester, woher sollten im Winter Äpfel kommen?« versetzte die arme Maruschka.

»Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte, Du widersprichst, wenn ich befehle? Gleich geh' in den Wald, und bringst Du keine roten Äpfel, wahrlich, so schlag' ich Dich tot!« drohte die böse Holena.

Die Stiefmutter fasste Maruschka, stieß sie zur Thür hinaus, und schloss diese fest hinter ihr. Das Mädchen eilte bitter weinend in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Allein das Mädchen irrte nicht umher, es ging gerade auf den Gipfel des Berges, wo das große Feuer brannte, wo die zwölf Monate saßen. Sie saßen dort, der Eismonat saß obenan.

»Liebe Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, Kälte schüttelt mich,« bat Maruschka, und trat zum Feuer.

Der Eismonat nickte mit dem Haupte und fragte:

»Weshalb bist Du wieder gekommen, was suchst Du da?« – »Ich suche rote Äpfel,« antwortete Maruschka.

»Es ist nicht an der Zeit,« sagte der Eismonat.

»Ich weiß wohl,« entgegnete Maruschka traurig, »allein Schwester Holena und meine Stiefmutter haben mir befohlen, rote Äpfel aus dem Wald zu bringen; bring' ich sie nicht, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde!«

Da erhob sich der Eismonat, schritt zu einem der älteren Monate, gab ihm den Stab in die Hand, und sprach:

»Bruder September, setz' Dich obenan!«

Der Monat September setzte sich obenan und schwang den Stab über dem Feuer. Das Feuer glühte rot, der Schnee verlor sich, aber die Bäume umhüllten sich nicht mit Laub, ein Blatt nach dem andern fiel ab, und der kühle Wind verstreute sie auf dem halben Rasen, eins dahin, das andere dorthin. Maruschka sah nicht so viele bunte Blumen. Am Talhng blühte Altmannskraut, blühten rote Nelken, im Thale standen gelbliche Eschen, unter den Buchen wuchs hohes Farrenkraut und dichtes Immergrün. Maruschka blickte nur nach roten Äpfeln umher, und sie gewahrte in der Tat einen Apfelbaum und hoch auf ihm zwischen den Zweigen rote Äpfel.

»Schnell, Maruschka, schüttle!« gebot der September.

Maruschka schüttelte freudig den Apfelbaum; es fiel ein Apfel herab. Maruschka schüttelte noch einmal; es fiel ein zweiter herab.

»Schnell, Maruschka, eile nach Hause!« gebot der Monat.

Maruschka gehorchte, nahm die zwei Äpfel, dankte den Monaten schön, und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie sahen, dass  Maruschka Äpfel bringe. Sie gingen ihr öffnen. Maruschka gab ihnen die zwei Aepfel.

»Wo hast Du sie gepflückt?«

»Hoch auf dem Berge; sie wachsen dort, und noch gibt's ihrer dort genug,« erwiderte Maruschka.

»Warum hast Du nicht mehr gebracht? Oder hast Du sie unterwegs gegessen?« fuhr Holena zornig gegen sie los.

»Ach liebe Schwester, ich habe keinen Bissen gegessen. Ich schüttelte einmal, da fiel ein Apfel herab; ich schüttelte zum zweiten Mal, da fiel noch einer herab; länger zu schütteln erlaubten sie mir nicht. Sie hießen mich nach Hause gehen,« sagte Maruschka.

»Dass der Donner in Dich fahre!« fluchte Holena, und wollte Maruschka schlagen.

Maruschka brach in Tränen aus, und bat Gott, er solle sie lieber zu sich nehmen, und sie nicht von der bösen Schwester und Stiefmutter erschlagen lassen. Sie floh in die Küche. Die genäschige Holena ließ das Fluchen und begann einen Apfel zu essen. Der Apfel schmeckte ihr so, dass sie versicherte, noch niemals in ihrem Leben so was Köstliches gegessen zu haben. Auch die Stiefmutter ließ sich's schmecken. Sie aßen die Äpfel auf, und es gelüstete sie nach mehr.

»Mutter, gib mir meinen Pelz! ich will selbst in den Wald gehen,« sagte Holena. »Das nichtsnutzige Ding würde sie wieder unterwegs essen. Ich will schon den Ort finden, und sie alle herabschütteln, ob es wer erlaubt oder nicht!«

Vergebens riet die Mutter ab. Holena zog den Pelz an, nahm ein Tuch um den Kopf, und eilte in den Wald. Die Mutter stand auf der Schwelle, und sah Holena nach, wie es ihr gehe.

Alles lag voll Schnee, nirgend war eine Fußstapfe zu schauen. Holena irrte, irrte lange; ihre Genäschigkeit trieb sie immer weiter. Da gewahrt sie in der Ferne ein Licht. Sie eilt darauf zu. Sie gelangt auf den Gipfel, wo das Feuer brennt, um das auf zwölf Steinen die zwölf Monate sitzen. Holena erschrickt; doch bald fasst sie sich, tritt näher zu dem Feuer, und streckt die Hände aus, um sich zu wärmen. Sie fragt die Monate nicht:

»Darf ich mich wärmen?« und spricht kein Wort zu ihnen.

»Was suchst Du hier, warum bist Du hergekommen!« fragt verdrießlich der Eismonat.

»Wozu fragst Du, Du alter Thor? Du brauchst nicht zu wissen, wohin ich gehe!« fertigt ihn Holena störrig ab, und wendet sich vom Feuer in den Wald.

Der Eismonat runzelt die Stirn, und schwingt seinen Stab über dem Haupte. In dem Augenblicke verfinstert sich der Himmel, das Feuer brennt niedrig, es beginnt Schnee zu fallen, als ob wer ein Federbett ausschüttelte, eisiger Wind weht durch den Wald. Holena sieht nicht einen Schritt vor sich; sie irrt und irrt, und stürzt in eine Schneewehe, und ihre Glieder ermatten, erstarren. Unaufhörlich fällt Schnee, eisiger Wind weht, Holena flucht der Schwester, flucht dem lieben Gott. Ihre Glieder erfrieren in dem warmen Pelz.

Die Mutter harrte auf Holena, blickte zum Fenster hinaus, blickte zur Thür hinaus, konnte aber die Tochter nicht erharren. Stunde auf Stunde verstrich, Holena kam nicht.

»Vielleicht schmecken ihr die Äpfel so gut, dass sie sich nicht von ihnen trennen kann,« dachte die Mutter, »ich muß nach ihr sehen!«

Sie zog ihren Pelz an, nahm ein Tuch um den Kopf, und ging, Holena zu finden. Alles lag voll Schnee, nirgend war eine Fußstapfe zu schauen. Sie rief Holena; niemand meldete sich. Sie irrte, irrte lange; Schnee fiel dicht, eisiger Wind wehte, Maruschka kochte das Essen, besorgte die Kuh; doch weder Holena, noch die Stiefmutter kam.

»Wo bleiben sie so lange!« sprach Maruschka zu sich, und setzte sich zum Spinnrocken. Schon war die Spindel voll, schon dämmerte es in der Stube, und es kam weder Holena, noch die Stiefmutter.

»Ach Gott, was ist ihnen zugestoßen?« klagte das gute Mädchen, und sah zum Fenster hinaus. Der Himmel strahlte von Sternen, die Erde glänzte von Schnee, es ließ sich niemand sehen; traurig schloss Maruschka das Fenster, machte das Kreuz, und betete ein Vaterunser für die Schwester und Mutter. Des andern Tages harrte sie mit dem Frühstück, harrte sie mit dem Mittagsmahl; doch sie erharrte weder Holena, noch die Stiefmutter. Beide waren im Wald erfroren. Der guten Maruschka blieb die Hütte, die Kuh und ein Stückchen Feld; es fand sich auch ein Hauswirt dazu, und Beide lebten in Frieden glücklich mit einander.

Dieser westslawische Märchenschatz ist von hat Joseph Wenzig (1807-1876).

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Freitag, 23. Dezember 2022

Der Stern der Mitte

 

Ein Weihnachtsmärchen von Paula Dehmel

Ein weiser Mann aus dem Morgenland hatte nach Jahren mühseliger Arbeit aus den Gesteinen der Erde einen Stern zusammengesetzt, in dem die feinsten Kräfte des Lebens gebannt waren. Was dem Weisen Schönes und Wertvolles begegnet war, hatte er in Kristallen verwandelt und dem Sterne eingefügt.

Als der Wunderstern vollendet war, ließ er auf der Landstraße, die von Mekka nach Medina führt, eine prächtige Schau- und Kaufhalle errichten. Hoch oben in der Kuppel befestigte er seinen Stern. Um ihn herliefen goldene Lettern, die in einer fremden Sprache folgenden Spruch trugen:

Weib oder Mann,

sieh mich gläubig an,

dann leuchtet tief,

was verborgen schlief,

dann wird zum Kern der Dinge Gestalt,

dann wird zur Ohnmacht fremde Gewalt,

dann wird zum Helden das Kind, der Tor,

dann klimmt ein Mensch zu Gott empor!

Tausende von Wanderer kamen täglich durch die Wunderhalle und bestaunten die Pracht und die Schätze, die der weise Mann darin aufgehäuft hatte. Sie betasteten das künstliche Gitterwerk vor den Schaukästen, die farbenprächtigen Teppiche an den Wänden, die herrlichen Sammlungen der Waffen und edlen Gesteine in den Nischen - jedoch den Stern hoch oben in der Deckenwölbung sah niemand gläubig an. Wohl streifte ab und zu ein halber Blick den hellen Fleck, aber man hielt ihn für wertloses Glas, und niemandes Auge blieb an ihm haften. Immer kehrten die Blicke in die prächtige Halle unten zurück. Da hingen auch zwei große Bilder an den Wänden. Vor diesen Bildern stand die Menge immer dichtgedrängt mit Staunen und Geflüster.

Das eine Bild stellte den Tod dar, wie er an einer langen Kette vorbeimarschierte und mit der Sense einem Soldaten nach dem andern den Kopf abschlägt. Die Soldaten aber - und das war grausig anzusehen - standen alle stramm wie auf dem Kasernenhof, und die ihren Kopf noch hatten, machten die Augen zu. Vorn, auf dem Feuer einer platzenden Granate, saß grinsend der Teufel und schwenkte sein rotes Fähnchen.

Das Bild auf der andern Seite war ein Gastmahl in einer offenen Veranda. Eine Menge schön geputzter Herren und Damen saßen da zu Tische. Erlesene Speisen und edle Weine standen vor ihnen. Sie aßen und lachten miteinander und warfen Knochen und Brotstücke über die Brüstung. Draußen standen viele arme Leute und fingen die Brocken auf; einige mit Hass in den Augen, andere mit tiefer Verbeugung. Daneben standen etliche, die sahen traurig oder ingrimmig zu, und einer ballte die Faust nach dem Tisch mit den Speisen.

Diese beiden Bilder zogen die Menschen immer wieder machtvoll an, aber der Weise aus dem Morgenland sah kopfschüttelnd zu; die Halle war schon seit Jahren fertig, und noch kein Pilger hatte den Stern der Decke gläubig angesehen.

Da kam eines Tages ein Findelkind der Armut in das Gewölbe. Heimatlos und elternlos war der Knabe ausgezogen, aber Augen waren voll Sonne und sein Herz voll Güte. Er sang in den blauen Himmel hinein, und sein trocknes Brot mundete ihm wie köstliches Manna. Ehrfurchtsvoll trat er in das hohe Tor, ließ seine staunenden Blicke langsam durch das Gewölbe gleiten und sah entzückt auf zur Kuppel. Da war ihm, als ob das ganze Bauwerk fern oben in der Mitte zusammenfloss, und als ob sich goldene Ströme in langen Bahnen aus dem leuchtenden Sterne in die Halle zurück ergössen. Immer wieder sah er hinab - hinauf - seine Augen wurden weit vor staunender Erkenntnis, und wie zum Gebet schlossen sich seine Hände.

 Da erfüllte sich das Wunder, das dem Sterne innewohnte: Er fing an sich zu drehen und dem Knaben sein verborgenes Farbenspiel zu zeigen. Weich und glühend dehnten sich seine bunten Kreise durch das Gewölbe; und was sie berührten, wurde von eigenem Leben erfüllt oder kristallen durchsichtig und offenbarte dem Beschauer sein innerstes Wirken. Da faltete der einsame Knabe gläubig die Hände und betete: "Gelobt sei Allah!"

Wie ein Träumender ging er zuerst durch das Gewimmel der anderen Pilger; sie wichen scheu vor ihm, er aber merkte es nicht.

Bald jedoch erfüllte sich die Verheißung des Weisen an ihm; es war, als ob ein geheimes Licht in Menschen und Dinge hineinleuchtete. So sah er vieles, was den andern verborgen war, und was er selbst nie vorher gesehen hatte. Auch die Bilder in der Halle sah er mit neuen Augen. Auf dem Bilde mit den geköpften Soldaten erblickte er hinter allen Gräueln den Friedensengel; und auf dem Bilde der Reichen und Armen sah er den Geist der Gerechtigkeit, der eben das Schwert aus der Scheide zog. Fern aber, zwischen beiden Bildern, tat sich ihm die Wand auf, und er sah ein neues Land in der Dämmerung liegen, wo stolze, gesunde Menschen ihrem Tagewerk und ihrer Muße nachgingen.

Und er sah das Lebendige und das Tote, und erkannte, dass ein Weizenkorn mehr sei als ein Goldkorn.

Und sah den Krieg und die Bitternis, und wusste, dass der Frieden ihr letztes Kind sein würde.

Und er sah, dass der Tod nur ruhendes Leben und das Endliche nur ein Widerspiel des Unendlichen ist.

Und er wuchs und tat seinen Mund auf und sagte den Pilgern, was er sah.

Und es ging ein Leuchten von ihm aus, sodass sie ihm glaubten und ihm anhingen.

Er hatte den Stern in der Mitte gläubig angesehen.


Paula Dehmel ( 1862 bis 1918 ) 
 
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Bild: Pixabay