Samstag, 19. November 2022

Sterne

 
Seliger Sterne schimmernde Scharen
Schweben so ferne, blinken so schön;
Aber in blauenden Nächten, in klaren,
Gleiten sie leise von einsamen Höh’n.

Stürzen, von siegender Sehnsucht getrieben,
Jäh durch der Welten unendlichen Raum
Nieder und weben ihr leuchtendes Lieben
Ein in der Blüten keuschen Traum.

Doch wenn im Osten der Tag sich rötet,
Müssen zurück sie, verblichen und matt . . . .
Sahst du denn niemals noch ein verspätet
Sternlein hangen am Rosenblatt? —

Rainer Maria Rilke

 

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Bild: Pixabay

Samstag, 5. November 2022

Waldesnacht

 


Es schienen so golden die Sterne,

Am Fenster ich einsam stand

Und hörte aus weiter Ferne

Ein Posthorn im stillen Land.

Das Herz mir im Leib entbrannte,

Da hab' ich mir heimlich gedacht:

Ach, wer da mitreisen könnte

In der prächtigen Sommernacht!

 

Zwei junge Gesellen gingen

Vorüber am Bergeshang,

Ich hörte im Wandern sie singen

Die stille Gegend entlang:

Von schwindelnden Felsenschlüften,

Wo die Wälder rauschen so sacht,

Von Quellen, die von den Klüften

Sich stürzen in die Waldesnacht.

 

Sie sangen von Marmorgebildern,

Von Gärten, die überm Gestein

In dämmernden Lauben verwildern,

Palästen im Mondenschein,

Wo die Mädchen am Fenster lauschen,

Wann der Lauten Klang erwacht

Und die Brunnen verschlafen rauschen

In der prächtigen Sommernacht.

 

Joseph von Eichendorff

(1788-1857)

 

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Foto: Pixabay