Das einsame Blatt
Es war einmal ein Blatt, das am unteren Stamm eines wunderschönen
Kirschbaumes, wuchs. Es war nicht mehr ganz jung, schließlich hatte es fast
sein ganzes Leben an diesem Stamm verbracht und über die Jahreszeiten viel
erlebt. Sogar manche Wetterkapriolen hatte es gut überstanden. Damals, als es
noch frisch und grün (hinter den Ohren war, hätte ich jetzt beinahe
geschrieben), genoss es sein Leben inmitten all der anderen Bäume und Pflanzen und
freute sich sein Leben hier verbringen zu dürfen. Es freute sich über die
Sonne, das Licht und den Schatten. Doch als das Frühjahr sich seinem Ende
zuneigte und immer mehr Blüten an ihm vorbei auf den Erdboden fielen, schaute
es zum ersten Mal hoch in die Krone des Baumes. Es konnte kaum glauben, dass sich
dort so viele Blätter und Blüten an den Ästen und Zweigen befanden, die
neugierig zu ihm herunter schauten.
Von nun an träumte das Blatt davon, auch dort oben verweilen zu
können. Wie gerne hätte es mal einen Blick in den Himmel geworfen, der ihm durch
die dichte Baumkrone versperrt blieb.
Das Blatt wurde von Tag zu Tag trauriger und fühlte sich von den
anderen ausgeschlossen. Als dann der
Sommer kam und ein leichter Wind durch die Blätter wehte, vernahm es ein leises
Säuseln, so, als würde der Wind eine Melodie spielen. Es sah, wie sich die
Blätter dazu wie zu einem Tanz bewegten. Es hätte so gerne mit dem Wind und den
anderen getanzt, aber es konnte sich nicht bewegen, der Stamm hielt es fest an
sich gedrückt. Mit jedem Tag der verging, fühlte sich das Blatt kleiner und
einsamer. Wie gerne wäre es dort oben bei den anderen gewesen, um in die Melodie
des Windes einzustimmen. Von nun an hatte es nur noch einen Wunsch, es wollte unbedingt
bei den anderen sein.
So verging ein Tag nach dem anderen und jeden Tag träumte das Blatt
davon, wie schön es wäre, einen Blick in den blauen Himmel werfen zu können, sich
zur Melodie des Windes bewegen zu können, sich frei und unabhängig zu fühlen.
Doch mit jedem Tag verlor es ein Stück Hoffnung und Lebensfreude.
Bis zu dem Tag im Herbst, als ein sehr heftiger Wind durch den
Garten fegte. Es konnte kaum glauben, was plötzlich geschah. Ein Blatt nach dem
anderen segelte an ihm vorbei zu Boden. Auf einmal lagen sie vor ihm und
schauten zu ihm herauf. Dem einsamen Blatt wurde ganz warm. Es begann sogar in
wunderschönen Farben zu leuchten. Es fühlte sich mit einem Mal nicht mehr so
alleine. Und trotzdem wurde es von einem Gefühl des Unbehagens ergriffen. Das
war eigentlich nicht das, was es sich gewünscht hatte. Es wollte doch bei den
anderen sein. Doch nun lagen sie da unten, unter ihm, nicht weit entfernt, es
musste zu ihnen herabschauen. Das gefiel dem Blatt gar nicht. Alles, was es
wollte war doch, bei den anderen zu sein. Und so verging der Herbst und der
Winter nahte. Der hielt viel zu früh Einzug und hatte einen mächtigen Sturm im
Gepäck, so dass Baum, der in der trockenen Sommerzeit viel Kraft verloren
hatte, das Blatt nicht mehr festhalten konnte. Eine heftige Böe riss das Blatt
vom Stamm ab und bevor es wusste wie ihm geschah, segelte es mit einem kaum
vernehmbaren Laut der Freude zu Boden und fand sich plötzlich in Gesellschaft
der anderen Blätter wieder. Was war für eine Freude ! Endlich befand es sich
auf gleicher Höhe mit den anderen.
Es konnte sein Glück kaum fassen. Inmitten
der anderen Blätter, begann es seine ganze Farbenpracht zu entfalten und
leuchtet noch schöner, viel schöner, als es jemals zu träumen gewagt hätte. Und
so wurde aus einem einsamen Blatt ein glückliches Blatt, das sich erst im
Herbst seines Lebens so richtig entfalten konnte, sich wohlfühlte und zufrieden
war - auch wenn es sich an manchen Tagen ein wenig schwach und kraftlos fühlte.
Dafür war nun der Blick auf den Himmel frei und es war nicht mehr alleine – nur das zählte.
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