Samstag, 25. Februar 2023

Das Hemd des Glücklichen

 

Ein König war krank und sagte: "Die Hälfte des Reiches gebe ich dem,
der mich gesund macht". Da versammelten sich alle Weisen und überlegten,
wie man den König gesund machen könne. Doch keiner wusste wie.
Nur einer der Weisen sagte, dass es möglich sei, den Herrscher zu heilen.
Er meinte: "Man muss einen glücklichen Menschen ausfindig machen,
dem das Hemd ausziehen und es dem König anziehen.
Dann wird der König gesund".

Und der König schickte überall hin, dass man in seinem weiten Reich
einen glücklichen Menschen suche. Aber die Beauftragten fuhren lange
im ganzen Reich umher und konnten keinen Glücklichen finden.
Nicht einen gab es, der zufrieden war. Wer reich war, war krank;
wer gesund war, war arm; wer gesund und reich war, der hatte ein
böses Weib, und bei dem und jenem stimmte es mit den Kindern nicht.
Über irgendetwas beklagten sich alle.

Aber einmal ging der Sohn des Königs spätabends an einer armseligen
Hütte vorbei und hörte jemanden sagen: "Gottlob, zu tun gab es heute
wieder genug, satt bin ich auch und lege mich nun schlafen.
Was braucht es mehr?"
Der Königssohn freute sich, befahl seinen Dienern, diesem Menschen
das Hemd auszuziehen und ihm dafür soviel Geld zu geben, wie er wolle,
und das Hemd gleich dem König zu bringen. Die Diener gingen eilends
zu dem glücklichen Menschen hin und wollten ihm das Hemd ausziehen.
Aber der Glückliche war so arm, dass er nicht einmal ein Hemd besaß!
 
Leo N. Tolstoi
 
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Donnerstag, 23. Februar 2023

Einsamkeit

 

Nun ist es still da draußen,
Die Wälder rauschen sacht,
Die Ströme murmelnd rinnen,
Es geht ein tiefes Sinnen
Hin durch die tiefe Nacht.

Des Windes leises Wehen
Säuselt im hohen Ried;
Die Sterne droben kreisen,
Tönend in ewigen Weisen
Ihr ewig großes Lied.

Die Welt ist groß und prächtig
Zu solcher stillen Zeit;
Es schweigt das eigne Denken,
Es will ins All versenken
Sich stumm das eigne Leid.

Konrad von Prittwitz-Gaffron
deutscher Schriftsteller
(1826 - 1906),
 
  
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Freitag, 10. Februar 2023

Der goldene Schlüssel

 
 
Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge
hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun
zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch
nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bisschen
wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte,
fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel
wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub in der Erde und fand ein
eisernes Kästchen. Wenn der Schlüssel nur passt! dachte er, es sind gewiss
kostbare Sachen in dem Kästchen. Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da,
endlich entdeckte er eins, aber so klein, dass man es kaum sehen konnte.
Er probierte, und der Schlüssel passte glücklich. Da drehte er einmal herum,
und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen, und den Deckel
aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen
in dem Kästchen lagen.

Gebr. Grimm
 
 
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Mittwoch, 25. Januar 2023

Sternenhimmel

 

Wenn man den Sternenhimmel betrachtet,
steht eine Schönheit vor uns auf, die uns entzückt und beseligt.
Und es wird ein Gefühl in unsere Seele kommen,
das alle unsere Leiden und Bekümmernisse majestätisch überfüllt
und verstummen macht und uns eine Größe und Ruhe gibt,
der man sich andächtig und dankbar beugt.
Adalbert Stifter


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Freitag, 13. Januar 2023

Die alte Frau und die Zwiebel

 
 
Eine Fabel von Dostojewski
Es war ein altes Weiblein, die war geizig und grimmig und hatte für niemanden jemals ein gutes Wort. Gewohnt hat sie draußen im Wald; und sie wollte mit niemandem etwas zu tun haben.

Irgendwann ist sie gestorben, und weil sie so geizig und böse war, drum warf man sie in den Feuersee. Da kommen alle rein, die im Leben nie etwas Gutes getan haben. Da waren schon viele drin, böse Sünder, die auch im Feuersee noch geschimpft haben auf diesen Ort und dass das alles ungerecht ist und so weiter; und am lautesten geschimpft hat unser Weiblein.

Am Rand vom See standen zwei Engel, und die haben die Alte im See gesehen - und der eine zuckte zusammen und rief: "Um Himmels willen, die Alte dahinten, die müssen wir rausholen!" Darauf sagt der andere: "Wieso denn? Die hat doch wirklich nie im Leben ein freundliches Wort gesprochen!" Und er nahm eine lange Stange und schob einen Sünder zurück in den See, der gerade zum Rand gekommen und schon ein bisschen rausgekrochen gewesen war aus dem Becken.

Aber der andere wurde hektisch, "Um Himmels willen, doch! Einmal hat sich ein Bettler hinaus verirrt in den Wald zu der bösen Frau. Er hat großen Hunger gehabt und bei ihr geklopft, ganz mutig; und sie war so verblüfft, sie hat sich gebückt und im Vorgarten aus der Erde eine Zwiebel gezogen, und die hat sie dem Bettler geschenkt."
"Eine gute Tat! Immerhin! Dann wollen wir sie retten."
Und der Engel schob die Hand in sein weißes Gewand - und zog die Zwiebel daraus hervor, und die hielt er über den Feuersee dem Weiblein hin und rief, "halt dich dran fest - dann zieh ich dich daran raus".

Und die Alte packte die Zwiebel und hielt sich fest, und der Engel zog - und die Alte merkte, da griffen alle anderen aus dem See nach ihren Beinen und krallten sich daran fest, und plötzlich hingen unzählige Leute an dieser kleinen Zwiebel! Der Engel zog trotzdem weiter, und vielleicht wäre alles gut gegangen, wer weiß? - aber die Alte fing an mit den Beinen zu strampeln und um sich zu treten, "Lasst los! Lasst mich sofort aus! Das ist meine Zwiebel! Die rettet nur mich allein und sonst keinen!" und das Gehampel war für die kleine Zwiebel schließlich zu viel - sie brach in der Mitte entzwei und die Frau stürzte zurück in den Feuersee.
 
 
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Mittwoch, 4. Januar 2023

Von den zwölf Monaten

 

Es war eine Mutter, und die hatte zwei Töchter; die eine war ihre eigne, die andere ihre Stieftochter. Die eigne Tochter hatte sie sehr lieb, die Stieftochter konnte sie nicht einmal ansehen, bloß darum, weil Maruschka schöner war, als Holena. Die gute Maruschka wusste von ihrer Schönheit nichts; sie konnte sich gar nicht erklären, warum die Mutter so böse sei, so oft sie sie ansehe. Alle Arbeit musste sie selbst verrichten: die Stube aufräumen, kochen, waschen, nähen, spinnen, weben, Gras zutragen und die Kuh allein besorgen. Holena putzte sich nur und ging müßig. Aber Maruschka arbeitete gern, war geduldig, und ertrug das Schelten, das Fluchen der Schwester und Mutter wie ein Lamm. Allein dies half nichts, sie wurden von Tag zu Tag schlimmer, und zwar bloß darum, weil Maruschka je länger, desto schöner, Holena desto garstiger ward. Die Mutter dachte: »Wozu sollt' ich die schöne Stieftochter im Hause leiden, wenn meine eigene Tochter nicht auch so ist? Die Bursche werden auf Brautschau kommen Maruschka wird ihnen gefallen, Holena werden sie nicht haben wollen!« Von diesem Augenblicke an suchten sie der armen Maruschka loszuwerden; sie quälten sie mit Hunger, sie schlugen sie, doch sie ertrug's geduldig und ward von Tag zu Tag schöner. Sie ersannen Qualen, wie sie braven Menschen gar nicht in den Sinn gekommen wären.

Eines Tages – es war in der Mitte des Eismonats – wollte Holena Veilchen haben.

 »Geh', Maruschka, bring' mir aus dem Walde einen Veilchenstrauß! Ich will ihn hinter den Gürtel stecken und an ihn riechen!« befahl sie der Schwester.

»Ach Gott, liebe Schwester, was fällt Dir bei! Hab' nie gehört dass unter dem Schnee Veilchen wüchsen,« versetzte das arme Mädchen.

»Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte, Du widersprichst, wenn ich befehle? Gleich wirst Du in den Wald gehen, und bringst Du keine Veilchen, so schlag' ich Dich tot!« drohte Holena.

Die Stiefmutter fasste Maruschka, stieß sie zur Thür hinaus, und schloss diese hinter ihr. Das Mädchen ging bitter weinend in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Die Arme irrte, irrte lange. Hunger plagte sie. Kälte schüttelte sie; sie bat Gott, er möchte sie lieber aus der Welt nehmen. Da gewahrt sie in der Ferne ein Licht. Sie geht dem Glanze nach und kommt auf den Gipfel eines Berges. Auf dem Gipfel brannte ein großes Feuer, um das Feuer lagen zwölf Steine, auf den Steinen saßen zwölf Männer. Drei waren graubärtig, drei waren jünger, drei waren noch jünger, und die drei jüngsten waren die schönsten. Sie redeten nichts, sie blickten still in das Feuer. Die zwölf Männer waren die zwölf Monate. Der Eismonat saß obenan; der hatte Haare und Bart weiß wie Schnee. In der Hand hielt er einen Stab, Maruschka erschrak, und blieb eine Weile verwundert stehen; dann aber fasste sie Mut, trat näher und bat:

»Liebe Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, Kälte schüttelt mich!«

Der Eismonat nickte mit dem Haupte und fragte sie: »Weshalb bist Du hergekommen, Mädchen? Was suchst Du hier?«

»Ich suche Veilchen,« antwortete Maruschka.

»Es ist nicht an der Zeit, Veilchen zu suchen, wenn Schnee liegt,«  sagte der Eismonat.

»Ich weiß wohl,« entgegnete Maruschka traurig, »allein Schwester Holena und die Stiefmutter haben mir befohlen, Veilchen aus dem Walde zu bringen; bring' ich sie nicht, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde?«

Da erhob sich der Eismonat, schritt zu dem jüngsten Monat, gab ihm den Stab in die Hand, und sprach: »Bruder März, setz' Dich obenan!«

Der Monat März setzte sich obenan und schwang den Stab über dem Feuer. In dem Augenblicke loderte das Feuer höher, der Schnee begann zu tauen, Bäume trieben Knospen, unter den Buchen grünte Gras, in dem Grase keimten bunte Blumen und es war Frühling. Unter Gesträuch verborgen blühten Veilchen, und eh' sich Maruschka dessen versah, gab es ihrer so viele, als ob wer ein blaues Tuch ausgebreitet hätte.

»Schnell, Maruschka, pflücke!« gebot der März.

Maruschka pflückte freudig, bis sie einen großen Strauß beisammen hatte. Dann dankte sie den Monaten und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie Maruschka sahen, wie sie einen Veilchenstrauß trug; sie gingen, ihr die Tür zu öffnen, und der Duft der Veilchen ergoss sich durch die ganze Hütte.

»Wo hast Du sie gepflückt?« fragte Holena störrig.

»Hoch auf dem Berge, dort wuchsen ihrer unter Gesträuch in Menge,« erwiderte Maruschka.

Holena nahm die Veilchen, steckte sie hinter den Gürtel, roch an sie, und ließ die Mutter riechen; zur Schwester sagte sie nicht einmal: »Riech auch!«

Des andern Tages saß Holena müßig beim Ofen, und es gelüstete sie nach Erdbeeren. »Geh', Maruschka, bring' mir Erdbeeren aus dem Walde!« befahl Holena der Schwester.

»Ach Gott, liebe Schwester, wo werd' ich Erdbeeren finden! Hab' nie gehört, dass unter dem Schnee Erdbeeren wüchsen,« versetzte Maruschka.

»Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte, Du widersprichst, wenn ich befehle? Gleich geh' in den Wald, und bringst Du keine Erdbeeren, wahrlich, so schlag' ich Dich tot!« drohte die böse Holena.

Die Stiefmutter fasste Maruschka, stieß sie zur Thür hinaus, und schloss diese fest hinter ihr. Das Mädchen ging bitter weinend in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Die Arme irrte, irrte lange: Hunger plagte sie, Kälte schüttelte sie. Da gewahrt sie in der Ferne dasselbe Feuer, das sie den Tag zuvor gesehen. Mit Freuden eilte sie darauf zu. Sie kam wieder zu dem großen Feuer, um welches die zwölf Monate saßen. Der Eismonat saß obenan.

»Liebe Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, Kälte schüttelt mich,« bat Maruschka.

Der Eismonat nickte mit dem Haupte und fragte: »Warum bist Du wieder gekommen, was suchst Du?«

»Ich suche Erdbeeren,« entgegnete Maruschka.

»Es ist nicht an der Zeit, Erdbeeren zu suchen, wenn Schnee liegt,« sagte der Eismonat.

»Ich weiß wohl,« antwortete Maruschka traurig, »allein Schwester Holena und meine Stiefmutter haben mir befohlen, Erdbeeren zu bringen; bring' ich sie nicht, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde!«

Der Eismonat erhob sich, schritt zum Monat, der ihm gegenüber saß, gab ihm den Stab in die Hand und sprach: »Bruder Juni, setz' Dich obenan!«

Der schöne Monat Juni setzte sich obenan, und schwang den Stab über dem Feuer. In dem Augenblicke schlug die Flamme hoch empor, der Schnee zerschmolz alsbald, die Erde grünte, Bäume umhüllten sich mit Laub, Vögel begannen zu singen, mannigfaltige Blumen blühten im Walde und es war Sommer. Weiße Sternlein gab es, als ob sie wer dahin gesät hätte. Sichtbar aber verwandelten sich die weißen Sternlein in Erdbeeren, die Erdbeeren reiften schnell, und eh' sich Maruschka dessen versah, gab es ihrer in dem grünen Rasen, als ob wer Blut ausgegossen hätte.

»Schnell, Maruschka, pflücke!« gebot der Juni.

Maruschka pflückte freudig, bis sie die Schürze voll hatte. Dann dankte sie den Monaten schön, und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie sahen, dass Maruschka in der That Erdbeeren bringe, die ganze Schürze voll. Sie liefen, ihr die Tür zu öffnen, und der Duft der Erdbeeren ergoss sich durch die ganze Hütte.

»Wo hast Du sie gepflückt?« fragte Holena störrig.

»Hoch auf dem Berge, dort wachsen ihrer in Fülle unter den Buchen,« erwiderte Maruschka.

Holena nahm die Erdbeeren, aß sich satt, und gab auch der Mutter zu essen; zu Maruschka sagten sie nicht einmal: »Kost' auch!«

Holena hatten die Erdbeeren geschmeckt, und es gelüstete sie des dritten Tages nach roten Äpfeln.

»Geh' in den Wald, Maruschka, und bring' mir rote Äpfel!« befahl sie der Schwester.

»Ach Gott, liebe Schwester, woher sollten im Winter Äpfel kommen?« versetzte die arme Maruschka.

»Du nichtsnutziges Ding, Du Kröte, Du widersprichst, wenn ich befehle? Gleich geh' in den Wald, und bringst Du keine roten Äpfel, wahrlich, so schlag' ich Dich tot!« drohte die böse Holena.

Die Stiefmutter fasste Maruschka, stieß sie zur Thür hinaus, und schloss diese fest hinter ihr. Das Mädchen eilte bitter weinend in den Wald. Der Schnee lag hoch, nirgend war eine Fußstapfe. Allein das Mädchen irrte nicht umher, es ging gerade auf den Gipfel des Berges, wo das große Feuer brannte, wo die zwölf Monate saßen. Sie saßen dort, der Eismonat saß obenan.

»Liebe Leute, erlaubt mir, dass ich mich am Feuer wärme, Kälte schüttelt mich,« bat Maruschka, und trat zum Feuer.

Der Eismonat nickte mit dem Haupte und fragte:

»Weshalb bist Du wieder gekommen, was suchst Du da?« – »Ich suche rote Äpfel,« antwortete Maruschka.

»Es ist nicht an der Zeit,« sagte der Eismonat.

»Ich weiß wohl,« entgegnete Maruschka traurig, »allein Schwester Holena und meine Stiefmutter haben mir befohlen, rote Äpfel aus dem Wald zu bringen; bring' ich sie nicht, so schlagen sie mich tot. Bitte schön, Ihr Hirten, sagt mir, wo ich deren finde!«

Da erhob sich der Eismonat, schritt zu einem der älteren Monate, gab ihm den Stab in die Hand, und sprach:

»Bruder September, setz' Dich obenan!«

Der Monat September setzte sich obenan und schwang den Stab über dem Feuer. Das Feuer glühte rot, der Schnee verlor sich, aber die Bäume umhüllten sich nicht mit Laub, ein Blatt nach dem andern fiel ab, und der kühle Wind verstreute sie auf dem halben Rasen, eins dahin, das andere dorthin. Maruschka sah nicht so viele bunte Blumen. Am Talhng blühte Altmannskraut, blühten rote Nelken, im Thale standen gelbliche Eschen, unter den Buchen wuchs hohes Farrenkraut und dichtes Immergrün. Maruschka blickte nur nach roten Äpfeln umher, und sie gewahrte in der Tat einen Apfelbaum und hoch auf ihm zwischen den Zweigen rote Äpfel.

»Schnell, Maruschka, schüttle!« gebot der September.

Maruschka schüttelte freudig den Apfelbaum; es fiel ein Apfel herab. Maruschka schüttelte noch einmal; es fiel ein zweiter herab.

»Schnell, Maruschka, eile nach Hause!« gebot der Monat.

Maruschka gehorchte, nahm die zwei Äpfel, dankte den Monaten schön, und eilte froh nach Hause. Es wunderte sich Holena, es wunderte sich die Stiefmutter, als sie sahen, dass  Maruschka Äpfel bringe. Sie gingen ihr öffnen. Maruschka gab ihnen die zwei Aepfel.

»Wo hast Du sie gepflückt?«

»Hoch auf dem Berge; sie wachsen dort, und noch gibt's ihrer dort genug,« erwiderte Maruschka.

»Warum hast Du nicht mehr gebracht? Oder hast Du sie unterwegs gegessen?« fuhr Holena zornig gegen sie los.

»Ach liebe Schwester, ich habe keinen Bissen gegessen. Ich schüttelte einmal, da fiel ein Apfel herab; ich schüttelte zum zweiten Mal, da fiel noch einer herab; länger zu schütteln erlaubten sie mir nicht. Sie hießen mich nach Hause gehen,« sagte Maruschka.

»Dass der Donner in Dich fahre!« fluchte Holena, und wollte Maruschka schlagen.

Maruschka brach in Tränen aus, und bat Gott, er solle sie lieber zu sich nehmen, und sie nicht von der bösen Schwester und Stiefmutter erschlagen lassen. Sie floh in die Küche. Die genäschige Holena ließ das Fluchen und begann einen Apfel zu essen. Der Apfel schmeckte ihr so, dass sie versicherte, noch niemals in ihrem Leben so was Köstliches gegessen zu haben. Auch die Stiefmutter ließ sich's schmecken. Sie aßen die Äpfel auf, und es gelüstete sie nach mehr.

»Mutter, gib mir meinen Pelz! ich will selbst in den Wald gehen,« sagte Holena. »Das nichtsnutzige Ding würde sie wieder unterwegs essen. Ich will schon den Ort finden, und sie alle herabschütteln, ob es wer erlaubt oder nicht!«

Vergebens riet die Mutter ab. Holena zog den Pelz an, nahm ein Tuch um den Kopf, und eilte in den Wald. Die Mutter stand auf der Schwelle, und sah Holena nach, wie es ihr gehe.

Alles lag voll Schnee, nirgend war eine Fußstapfe zu schauen. Holena irrte, irrte lange; ihre Genäschigkeit trieb sie immer weiter. Da gewahrt sie in der Ferne ein Licht. Sie eilt darauf zu. Sie gelangt auf den Gipfel, wo das Feuer brennt, um das auf zwölf Steinen die zwölf Monate sitzen. Holena erschrickt; doch bald fasst sie sich, tritt näher zu dem Feuer, und streckt die Hände aus, um sich zu wärmen. Sie fragt die Monate nicht:

»Darf ich mich wärmen?« und spricht kein Wort zu ihnen.

»Was suchst Du hier, warum bist Du hergekommen!« fragt verdrießlich der Eismonat.

»Wozu fragst Du, Du alter Thor? Du brauchst nicht zu wissen, wohin ich gehe!« fertigt ihn Holena störrig ab, und wendet sich vom Feuer in den Wald.

Der Eismonat runzelt die Stirn, und schwingt seinen Stab über dem Haupte. In dem Augenblicke verfinstert sich der Himmel, das Feuer brennt niedrig, es beginnt Schnee zu fallen, als ob wer ein Federbett ausschüttelte, eisiger Wind weht durch den Wald. Holena sieht nicht einen Schritt vor sich; sie irrt und irrt, und stürzt in eine Schneewehe, und ihre Glieder ermatten, erstarren. Unaufhörlich fällt Schnee, eisiger Wind weht, Holena flucht der Schwester, flucht dem lieben Gott. Ihre Glieder erfrieren in dem warmen Pelz.

Die Mutter harrte auf Holena, blickte zum Fenster hinaus, blickte zur Thür hinaus, konnte aber die Tochter nicht erharren. Stunde auf Stunde verstrich, Holena kam nicht.

»Vielleicht schmecken ihr die Äpfel so gut, dass sie sich nicht von ihnen trennen kann,« dachte die Mutter, »ich muß nach ihr sehen!«

Sie zog ihren Pelz an, nahm ein Tuch um den Kopf, und ging, Holena zu finden. Alles lag voll Schnee, nirgend war eine Fußstapfe zu schauen. Sie rief Holena; niemand meldete sich. Sie irrte, irrte lange; Schnee fiel dicht, eisiger Wind wehte, Maruschka kochte das Essen, besorgte die Kuh; doch weder Holena, noch die Stiefmutter kam.

»Wo bleiben sie so lange!« sprach Maruschka zu sich, und setzte sich zum Spinnrocken. Schon war die Spindel voll, schon dämmerte es in der Stube, und es kam weder Holena, noch die Stiefmutter.

»Ach Gott, was ist ihnen zugestoßen?« klagte das gute Mädchen, und sah zum Fenster hinaus. Der Himmel strahlte von Sternen, die Erde glänzte von Schnee, es ließ sich niemand sehen; traurig schloss Maruschka das Fenster, machte das Kreuz, und betete ein Vaterunser für die Schwester und Mutter. Des andern Tages harrte sie mit dem Frühstück, harrte sie mit dem Mittagsmahl; doch sie erharrte weder Holena, noch die Stiefmutter. Beide waren im Wald erfroren. Der guten Maruschka blieb die Hütte, die Kuh und ein Stückchen Feld; es fand sich auch ein Hauswirt dazu, und Beide lebten in Frieden glücklich mit einander.

Dieser westslawische Märchenschatz ist von hat Joseph Wenzig (1807-1876).

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Donnerstag, 29. Dezember 2022

Am Ende des alten Jahres

 

 

Jetzt am Ende des alten Jahres ist es an der Zeit danke zu sagen.

Danke:

Für jeden Tag, an dem wir frohe Stunden und Glücksmomente erleben durften.

Für jeden Tag, an dem wir gesund waren und Zeit

für unsere Lieben und unsere Freunde hatten.

Für jeden Tag, an dem wir lachen und träumen konnten.

Für jeden Tag, an dem wir Zeit hatten, innezuhalten und nachzudenken.

Für jeden Tag, an dem wir tun konnten, was wir gerne tun

und was uns guttut.

Für jeden Tag, an dem wir geliebt haben und geliebt wurden.

Für jeden Tag, an dem wir frei von Sorgen und zufrieden waren.

Danke für jeden Tag, an dem wir das Geschenk LEBEN

genießen durften!

 

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Ein frohes, glückliches und gesundes neues Jahr 2023
 
 
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