Freitag, 23. Dezember 2022

Der Stern der Mitte

 

Ein Weihnachtsmärchen von Paula Dehmel

Ein weiser Mann aus dem Morgenland hatte nach Jahren mühseliger Arbeit aus den Gesteinen der Erde einen Stern zusammengesetzt, in dem die feinsten Kräfte des Lebens gebannt waren. Was dem Weisen Schönes und Wertvolles begegnet war, hatte er in Kristallen verwandelt und dem Sterne eingefügt.

Als der Wunderstern vollendet war, ließ er auf der Landstraße, die von Mekka nach Medina führt, eine prächtige Schau- und Kaufhalle errichten. Hoch oben in der Kuppel befestigte er seinen Stern. Um ihn herliefen goldene Lettern, die in einer fremden Sprache folgenden Spruch trugen:

Weib oder Mann,

sieh mich gläubig an,

dann leuchtet tief,

was verborgen schlief,

dann wird zum Kern der Dinge Gestalt,

dann wird zur Ohnmacht fremde Gewalt,

dann wird zum Helden das Kind, der Tor,

dann klimmt ein Mensch zu Gott empor!

Tausende von Wanderer kamen täglich durch die Wunderhalle und bestaunten die Pracht und die Schätze, die der weise Mann darin aufgehäuft hatte. Sie betasteten das künstliche Gitterwerk vor den Schaukästen, die farbenprächtigen Teppiche an den Wänden, die herrlichen Sammlungen der Waffen und edlen Gesteine in den Nischen - jedoch den Stern hoch oben in der Deckenwölbung sah niemand gläubig an. Wohl streifte ab und zu ein halber Blick den hellen Fleck, aber man hielt ihn für wertloses Glas, und niemandes Auge blieb an ihm haften. Immer kehrten die Blicke in die prächtige Halle unten zurück. Da hingen auch zwei große Bilder an den Wänden. Vor diesen Bildern stand die Menge immer dichtgedrängt mit Staunen und Geflüster.

Das eine Bild stellte den Tod dar, wie er an einer langen Kette vorbeimarschierte und mit der Sense einem Soldaten nach dem andern den Kopf abschlägt. Die Soldaten aber - und das war grausig anzusehen - standen alle stramm wie auf dem Kasernenhof, und die ihren Kopf noch hatten, machten die Augen zu. Vorn, auf dem Feuer einer platzenden Granate, saß grinsend der Teufel und schwenkte sein rotes Fähnchen.

Das Bild auf der andern Seite war ein Gastmahl in einer offenen Veranda. Eine Menge schön geputzter Herren und Damen saßen da zu Tische. Erlesene Speisen und edle Weine standen vor ihnen. Sie aßen und lachten miteinander und warfen Knochen und Brotstücke über die Brüstung. Draußen standen viele arme Leute und fingen die Brocken auf; einige mit Hass in den Augen, andere mit tiefer Verbeugung. Daneben standen etliche, die sahen traurig oder ingrimmig zu, und einer ballte die Faust nach dem Tisch mit den Speisen.

Diese beiden Bilder zogen die Menschen immer wieder machtvoll an, aber der Weise aus dem Morgenland sah kopfschüttelnd zu; die Halle war schon seit Jahren fertig, und noch kein Pilger hatte den Stern der Decke gläubig angesehen.

Da kam eines Tages ein Findelkind der Armut in das Gewölbe. Heimatlos und elternlos war der Knabe ausgezogen, aber Augen waren voll Sonne und sein Herz voll Güte. Er sang in den blauen Himmel hinein, und sein trocknes Brot mundete ihm wie köstliches Manna. Ehrfurchtsvoll trat er in das hohe Tor, ließ seine staunenden Blicke langsam durch das Gewölbe gleiten und sah entzückt auf zur Kuppel. Da war ihm, als ob das ganze Bauwerk fern oben in der Mitte zusammenfloss, und als ob sich goldene Ströme in langen Bahnen aus dem leuchtenden Sterne in die Halle zurück ergössen. Immer wieder sah er hinab - hinauf - seine Augen wurden weit vor staunender Erkenntnis, und wie zum Gebet schlossen sich seine Hände.

 Da erfüllte sich das Wunder, das dem Sterne innewohnte: Er fing an sich zu drehen und dem Knaben sein verborgenes Farbenspiel zu zeigen. Weich und glühend dehnten sich seine bunten Kreise durch das Gewölbe; und was sie berührten, wurde von eigenem Leben erfüllt oder kristallen durchsichtig und offenbarte dem Beschauer sein innerstes Wirken. Da faltete der einsame Knabe gläubig die Hände und betete: "Gelobt sei Allah!"

Wie ein Träumender ging er zuerst durch das Gewimmel der anderen Pilger; sie wichen scheu vor ihm, er aber merkte es nicht.

Bald jedoch erfüllte sich die Verheißung des Weisen an ihm; es war, als ob ein geheimes Licht in Menschen und Dinge hineinleuchtete. So sah er vieles, was den andern verborgen war, und was er selbst nie vorher gesehen hatte. Auch die Bilder in der Halle sah er mit neuen Augen. Auf dem Bilde mit den geköpften Soldaten erblickte er hinter allen Gräueln den Friedensengel; und auf dem Bilde der Reichen und Armen sah er den Geist der Gerechtigkeit, der eben das Schwert aus der Scheide zog. Fern aber, zwischen beiden Bildern, tat sich ihm die Wand auf, und er sah ein neues Land in der Dämmerung liegen, wo stolze, gesunde Menschen ihrem Tagewerk und ihrer Muße nachgingen.

Und er sah das Lebendige und das Tote, und erkannte, dass ein Weizenkorn mehr sei als ein Goldkorn.

Und sah den Krieg und die Bitternis, und wusste, dass der Frieden ihr letztes Kind sein würde.

Und er sah, dass der Tod nur ruhendes Leben und das Endliche nur ein Widerspiel des Unendlichen ist.

Und er wuchs und tat seinen Mund auf und sagte den Pilgern, was er sah.

Und es ging ein Leuchten von ihm aus, sodass sie ihm glaubten und ihm anhingen.

Er hatte den Stern in der Mitte gläubig angesehen.


Paula Dehmel ( 1862 bis 1918 ) 
 
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Bild: Pixabay
 

Mittwoch, 21. Dezember 2022

Väterchen Frost

 


Es war einmal vor langer Zeit in einem weit entfernten Land ein Mann mit seiner Frau.
Beide waren bereits zuvor verheiratet gewesen, doch ihre früheren Eheleute waren
gestorben und so hatten sie wieder geheiratet. Beide hatten aus ihrer früheren Ehe je
eine Tochter. Die Tochter der Frau war böse und gemein, während die Tochter des Mannes
lieb und sanft war. Die Frau liebte nur ihre eigene Tochter und ließ ihre Stieftochter
den ganzen Tag hart arbeiten. Das Mädchen musste das ganze Haus alleine putzen und
wurde von der Stiefmutter oft geschlagen. Doch dennoch hasste die Frau die Tochter des
Mannes von Tag zu Tag mehr. Eines Tages, mitten in einem harten, kalten Winter,
beschloss die Stiefmutter, dass das arme Mädchen in den tiefen Wald gebracht und sich
selbst überlassen werden sollte.
Der Vater des Mädchens wollte das natürlich nicht, doch seine Frau war so boshaft und
herrisch, dass er mittlerweile Angst vor ihr hatte, seine Tochter tatsächlich mit in
den Wald nahm und sie dort alleine ließ. Einsam und verlassen saß das Mädchen nun unter
einem Baum. Doch schon nach kurzer Zeit hörte sie ein Knacken von Zweigen und kurz
darauf eine Stimme, die sprach: „Frierst Du, liebes Kind ?“ Das Mädchen erkannte die
Stimme als die von Väterchen Frost und antwortete: „Nein, Väterchen Frost. Mir ist nicht
kalt.“ Da fragte er sie nochmals und noch mal und kam näher und näher zu dem Kind. Das
Mädchen antwortete jedes Mal, dass ihr warm sei, doch das arme Kind dauerte dem Väterchen
Frost so sehr, dass er es in einen weichen, prächtigen Mantel wickelte, die ganze Nacht
wärmte und es am Morgen mit Geschenken überhäufte.
Dem Vater bedauerte seine böse Tat inzwischen und kam am nächsten Tag in den Wald zurück,
um seine Tochter zu retten und freute sich sehr, als er sie nicht nur lebendig, sondern
auch warm bekleidet und mit großen Reichtümern beladen fand. Beide kehrten nach Hause
zurück. Als sie wieder da waren und die Stiefmutter die Reichtümer des Mädchens sah,
wollte sie sofort, dass auch ihre eigene Tochter in den Wald gebracht und dort eine
Nacht verbringen solle. Natürlich hoffte sie, dass auch ihre Tochter reich beschenkt
zurückkommen würde.
Also ging der Mann in den Wald und ließ die Tochter der Frau dort zurück. Doch als er
sie am nächsten Morgen holen wollte, erschrak er. Nicht beladen mit Reichtum, sondern
kalt gefroren war der Leib des bösen Mädchens. Er brachte ihren Leichnam der bösen Frau
zurück, nahm seine eigene Tochter bei der Hand und zog von der bösen Stiefmutter für
immer fort. Und wenn er und das Mädchen nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
 
 
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Quelle: Russisches Volksgut aus der Sammlung von A. Afanasiew

Donnerstag, 15. Dezember 2022

Zum Advent

 
 

Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,

Aber als Knecht Ruprecht schon

Kommt der Winter hergeschritten,

Und alsbald aus Schnees Mitten

Klingt des Schlittenglöckleins Ton.

 

Und was jüngst noch, fern und nah,

Bunt auf uns herniedersah,

Weiß sind Türme, Dächer, Zweige,

Und das Jahr geht auf die Neige,

Und das schönste Fest ist da.

 

Tag du der Geburt des Herrn,

Heute bist du uns noch fern,

Aber Tannen, Engel, Fahnen

Lassen uns den Tag schon ahnen,

Und wir sehen schon den Stern.

 (Theodor Fontane)


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Bild: Pixabay

 

 

Donnerstag, 1. Dezember 2022

Weihnachtszeit

 

 

Kerzen in der Weihnachtszeit

Bringen Licht in die dunkle Zeit.

Sie leuchten weit für Hoffnung und Frieden,

Sie bringen Wärme und Licht für die, die wir lieben.

Sie öffnen die Türen und Herzen,

der helle Schein der Weihnachtskerzen.

 

© Ursula Evelyn

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Bild: Pixabay

Samstag, 19. November 2022

Sterne

 
Seliger Sterne schimmernde Scharen
Schweben so ferne, blinken so schön;
Aber in blauenden Nächten, in klaren,
Gleiten sie leise von einsamen Höh’n.

Stürzen, von siegender Sehnsucht getrieben,
Jäh durch der Welten unendlichen Raum
Nieder und weben ihr leuchtendes Lieben
Ein in der Blüten keuschen Traum.

Doch wenn im Osten der Tag sich rötet,
Müssen zurück sie, verblichen und matt . . . .
Sahst du denn niemals noch ein verspätet
Sternlein hangen am Rosenblatt? —

Rainer Maria Rilke

 

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Bild: Pixabay

Samstag, 5. November 2022

Waldesnacht

 


Es schienen so golden die Sterne,

Am Fenster ich einsam stand

Und hörte aus weiter Ferne

Ein Posthorn im stillen Land.

Das Herz mir im Leib entbrannte,

Da hab' ich mir heimlich gedacht:

Ach, wer da mitreisen könnte

In der prächtigen Sommernacht!

 

Zwei junge Gesellen gingen

Vorüber am Bergeshang,

Ich hörte im Wandern sie singen

Die stille Gegend entlang:

Von schwindelnden Felsenschlüften,

Wo die Wälder rauschen so sacht,

Von Quellen, die von den Klüften

Sich stürzen in die Waldesnacht.

 

Sie sangen von Marmorgebildern,

Von Gärten, die überm Gestein

In dämmernden Lauben verwildern,

Palästen im Mondenschein,

Wo die Mädchen am Fenster lauschen,

Wann der Lauten Klang erwacht

Und die Brunnen verschlafen rauschen

In der prächtigen Sommernacht.

 

Joseph von Eichendorff

(1788-1857)

 

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Foto: Pixabay