Sonntag, 31. Oktober 2021

Nachts

 


Ich steh im Waldesschatten
Wie an des Lebens Rand,
Die Länder wie dämmernde Matten,
Der Strom wie ein silbern Band.

Von fern nur schlagen die Glocken
über die Wälder herein,
Ein Reh hebt den Kopf erschrocken
und schlummert gleich wieder ein.

Der Wald aber rühret die Wipfel
Im Traum vor der Felsenwand.
Denn der Herr geht über die Gipfel
und segnet das stille Land.

Joseph von Eichendorff

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Bild: Pixabay

Dienstag, 19. Oktober 2021

Die Nachtblume

 


Nacht ist wie ein stilles Meer,
Lust und Leid und Liebesklagen
Kommen so verworren her
In dem linden Wellenschlagen.

Wünsche wie die Wolken sind,
Schiffen durch die stillen Räume,
Wer erkennt im lauen Wind,
Ob's Gedanken oder Träume? -

Schließ ich nun auch Herz und Mund,
Die so gern den Sternen klagen:
Leise doch im Herzensgrund
Bleibt das linde Wellenschlagen.


Joseph von Eichendorff


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Bild: Pixabay

Samstag, 2. Oktober 2021

Abend wird es wieder

 


Abend wird es wieder,
Über Wald und Feld
Säuselt Frieden nieder
Und es ruht die Welt.

Nur der Bach ergießet
Sich am Felsen dort,
Und er braust und fließet
Immer, immer fort.

Und kein Abend bringet
Frieden ihm und Ruh,
Keine Glocke klinget
Ihm ein Rastlied zu.

So in deinem Streben
Bist, mein Herz, auch du:
Gott nur kann dir geben
Wahre Abendruh.

Hoffmann von Fallersleben
(1798-1874)

 

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Donnerstag, 16. September 2021

Allnächtlich im Traume

 

Allnächtlich im Traume seh ich dich,
Und sehe dich freundlich grüßen,
Und lautaufweinend stürz ich mich
Zu deinen süßen Füßen.

Du siehst mich an wehmütiglich,
Und schüttelst das blonde Köpfchen;
Aus deinen Augen schleichen sich
Die Perlentränentröpfchen.

Du sagst mir heimlich ein leises Wort,
Und gibst mir den Strauß von Zypressen.
Ich wache auf, und der Strauß ist fort,
Und das Wort hab ich vergessen.

Heinrich Heine

 

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Bild: Pixabay

Mittwoch, 1. September 2021

Der Morgen


Fliegt der erste Morgenstrahl
Durch das stille Nebeltal,
Rauscht erwachend Wald und Hügel:
Wer da fliegen kann, nimmt Flügel!
Und sein Hütlein in die Luft
Wirft der Mensch vor Lust und ruft:
Hat Gesang doch auch noch Schwingen,
Nun so will ich fröhlich singen!
Hinaus, o Mensch, weit in die Welt,
Bangt dir das Herz in krankem Mut;
Nichts ist so trüb in Nacht gestellt,
Der Morgen leicht macht's wieder gut.

 Joseph von Eichendorff
(1788-1857)
 
 
 
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 Bild: Pixabay

Dienstag, 31. August 2021

Sternennacht

 

Von frischer Kühle angezogen
Verlass ich spät die Tür,
Da wölbt der tieferblaute Bogen
Sich lockend über mir.

Der Mond aus leiser Nebelhülle
Streut sachten Glanz umher,
Der Höhen reine Ätherfülle
Durchglüht ein Sonnenheer.

Ein jeder Stern an seiner Stelle,
O welche hehre Pracht,
Der Himmel strahlt in Zauberhelle,
Und doch ist tiefe Nacht.

Greif, Martin
(1839-1911)
 

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Dienstag, 24. August 2021

Nichts ist wie es scheint

 
 
Zwei reisende Engel machten Halt, um die Nacht im Hause einer wohlhabenden
Familie zu verbringen. Die Familie war unhöflich und verweigerte den Engeln,
im Gästezimmer des Haupthauses auszuruhen. Anstelle dessen bekamen sie
einen kleinen Platz im kalten Keller.

Als sie sich auf dem harten Boden ausstreckten, sah der ältere Engel ein Loch
in der Wand und reparierte es. Als der jüngere Engel fragte, warum, antwortete
der ältere Engel: "Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen."

In der nächsten Nacht rasteten die beiden im Haus eines sehr armen,
aber gastfreundlichen Bauern und seiner Frau. Nachdem sie das wenige Essen,
das sie hatten, mit ihnen geteilt hatten, ließen sie die Engel in ihrem Bett
schlafen, wo sie gut schliefen.
Als die Sonne am nächsten Tag den Himmel erklomm, fanden die Engel den
Bauern und seine Frau in Tränen. Ihre einzige Kuh, deren Milch ihr alleiniges
Einkommen gewesen war, lag tot auf dem Feld.

Der jüngere Engel wurde wütend und fragte den älteren Engel, wie er das habe
geschehen lassen können?
"Der erste Mann hatte alles, trotzdem halfst du ihm",
meinte er anklagend. "Die zweite Familie hatte wenig, und du ließest die
Kuh sterben."  "Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen",
sagte der ältere Engel.
"Als wir im kalten Keller des Haupthauses ruhten, bemerkte ich, dass Gold in
diesem Loch in der Wand steckte. Weil der Eigentümer so von Gier besessen
war und sein glückliches Schicksal nicht teilen wollte, versiegelte ich die Wand,
sodass er es nicht finden konnte.

Als wir dann in der letzten Nacht im Bett des Bauern schliefen, kam der Engel
des Todes, um seine Frau zu holen.  Ich gab ihm die Kuh anstatt dessen.
"Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen."

Manchmal ist das genau das, was passiert, wenn die Dinge sich nicht als das
entpuppen, was sie sollten.
Wenn du Vertrauen hast, musst du dich bloß darauf verlassen,
dass jedes Ergebnis zu deinem Vorteil ist.
Du magst es nicht bemerken, bevor ein bisschen Zeit vergangen ist ...


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Bild: Pixabay
(Autor leider unbekannt)