Montag, 15. Februar 2021

Drei Siebe

 

 
Ein Mann sagte zum weisen Sokrates:
"Höre, Sokrates, das muss ich dir unbedingt erzählen!"
"Halte ein!" unterbrach ihn der Weise, "hast du das, was du mir
sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?"
"Drei Siebe?", fragte der andere voller Verwunderung.
"Ja, guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir sagen willst,
durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit.
Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft,
ob es auch wirklich wahr ist?"
"Nein, ich hörte es erzählen und ..."
"So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft.
Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst gut,
oder könnte es jemandem schaden?"
Zögernd sagte der andere: "Nein, im Gegenteil .."
"Hmmm", unterbrach ihn der Weise, "so lasst uns auch das dritte Sieb
noch anwenden. Ist es wirklich notwendig, dass du mir das erzählst?"
"Notwendig nun gerade nicht ..."
"Also, sagte lächelnd der Weise, "wenn es weder wahr noch gut
noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich
und mich nicht damit." 

(Autor unbekannt)

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Foto: Pixabay
 

Dienstag, 9. Februar 2021

Die Palme

 

 
Durch eine Oase ging ein finsterer Mann, Ben Sadok.
Er war so gallig in seinem Charakter,
dass er nichts Gutes und Schönes sehen konnte, ohne es zu verderben.
Am Rande der Oase stand eine junge Palme. Sie war schön gewachsen.
Das ärgerte Ben Sadok. Darum nahm er einen schweren Stein und
legte ihn der jungen Palme mitten in die Krone. Mit einem bösen Lachen
ging er fort. Die Palme schüttelte sich und bog sich und versuchte,
die Last abzuwerfen. Doch vergebens. Zu fest saß der Stein in ihrer Krone.
Da krallte sich die Palme fest in den Boden,  schickte ihre Wurzeln so tief
in die Erde, dass sie die verborgenen Wasseradern in der Oase erreichten,
wuchs empor und stemmte dabei mit aller Kraft den schweren Stein hoch
und höher, bis die Krone mit den großen Palmenwedel über jeden Schatten
hinausreichte. Wasser aus der Tiefe und Sonnenglut aus der Höhe halfen
dem jungen Baum, trotz seiner schweren Last eine königliche Palme zu werden.
Nach vielen Jahren kam Ben Sadok wieder. Schadenfroh wollte er den
verkrüppelten Baum sehen, den er, wie er meinte, verdorben hatte.
Er suchte ihn, aber er  fand ihn nicht. Da senkte die stolzeste und höchste
aller Palmen ihre Krone, zeigte ihm den Stein und sagte:
Ich danke dir, Ben Sadok. Deine Last hat mich stark gemacht.

Quelle:
Ein afrikanisches Märchen
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Foto: Pixabay

Dienstag, 2. Februar 2021

Der Weiher

Er liegt so still im Morgenlicht,
So friedlich, wie ein fromm Gewissen;
Wenn Weste seinen Spiegel küssen,
Des Ufers Blume fühlt es nicht;
Libellen zittern über ihn,
Blaugoldne Stäbchen und Karmin,
Und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;
Schwertlilienkranz am Ufer steht
Und horcht des Schilfes Schlummerliede;
Ein lindes Säuseln kommt und geht,
Als flüstr' es: Friede! Friede! Friede!-

(Annette von Droste-Hülshoff)

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Bild: Pixabay

Samstag, 30. Januar 2021

Am Kamin

 

Ein Wintergedicht von Heinrich Heine.

Draußen ziehen weiße Flocken
durch die Nacht, der Sturm ist laut;
Hier im Stübchen ist es trocken,
warm und einsam, stillvertraut.
Sinnend sitz ich auf dem Sessel
 an dem knisternden Kamin,
kochend summt der Wasserkessel
längst verklungne Melodien.
Und ein Kätzchen sitzt daneben,
wärmt Pfötchen an der Glut,
und die Flammen schweben, weben,
wundersam wird mir zu Mut.
Dämmernd kommt heraufgestiegen
manche längst vergessne Zeit.
Wie mit bunten Maskenzügen
und verblichner Herrlichkeit.
Und das alles zieht vorüber,
Schattenhastig übereilt.
Ach ! Da kocht der Kessel über,
und das nasse Kätzchen heult.

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Bild: Pixabay

Donnerstag, 28. Januar 2021

Im Winter

 

 Der Acker leuchtet weiß und kalt.
Der Himmel ist einsam und ungeheuer.
Dohlen kreisen über dem Weiher,
Und Jäger steigen nieder vom Wald.
Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.
Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.
Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten,
Und langsam steigt der graue Mond.
Ein Wild verblutet sanft am Rain,
Und Raben plätschern in blutigen Gossen.
Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.
Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.

Georg Trakl

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Montag, 25. Januar 2021

Wintertag

 


Mein Garten liegt im Schnee versteckt.
Die Welt hüllt sich in Flockenweiß.
Fremd und seltsam fern
erscheinen Baum und Strauch.

Lautlose Stille wandert über die Felder
und Kälte starrt mir ins Gesicht.
Ich aber träume von
Veilchen und Narzissen.

 Maria Holschuh

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Sonntag, 24. Januar 2021

Winter Tristesse


Grau in Grau der Tag beginnt,

dem Morgen jede Farbe nimmt.

Spärliches Licht die Stunden erhellt,

wie kalt sie ist, die Winterwelt !

Kein Strauch, kein Baum zu leben scheint,

in des Winters Ruhe sind sie still vereint.

Und doch lebt jeder für sich allein,

einsam in den tristen Tag hinein.

©  Ursula Evelyn

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Foto: Pixabay