Samstag, 11. März 2023

Der Suchende

 

Es war einmal ein Suchender.
Er suchte nach einer Lösung für sein Problem,
konnte sie aber nicht finden.
Er suchte immer heftiger, immer verbissener,
immer schneller und fand sie doch nirgends.
Die Lösung ihrerseits war inzwischen schon ganz außer Atem.
Es gelang ihr einfach nicht, den Suchenden einzuholen,
bei dem Tempo, mit dem er hin- und herrannte,
ohne auch nur einmal zu verschnaufen oder sich umzusehen.

Eines Tages brach der Suchende mutlos zusammen,
setzte sich auf einen Stein, legte den Kopf in die Hände und
wollte sich eine Weile ausruhen.
Die Lösung, die schon gar nicht mehr daran geglaubt hatte,
dass der Suchende einmal anhalten würde,
stolperte mit voller Wucht über ihn!
Und er fing auf, was da so plötzlich über ihn hereinbrach
und entdeckte erstaunt,
dass er seine Lösung in Händen hielt.

(Verfasser unbekannt)


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Freitag, 3. März 2023

Ein Waldmärchen

  Was ist Leben ?
Um diese Frage geht es heute am Waldesrand.

 
  
An einem schönen Sommertag um die Mittagszeit war große Stille am Waldesrand.
Die Vögel hatten ihre Köpfe unter die Flügel gesteckt und alles ruhte.
Da streckte ein Buchfink sein Köpfchen hervor und fragte:
"Was ist eigentlich das Leben?"
Alle waren betroffen über diese schwierige Frage. Im großen Bogen flog der Buchfink über die weite Wiese und kehrte zu seinem Ast im Schatten des Baumes zurück.
Die Heckenrose entfaltete gerade ihre Knospe und schob behutsam ein Blatt ums andere heraus. Sie sprach: "Das Leben ist eine Entwicklung."
Weniger tief veranlagt war der Schmetterling. Er flog von einer Blume zur anderen, naschte da und dort und sagte: "Das Leben ist lauter Freude und Sonnenschein."
Drunten im Gras mühte sich eine Ameise mit einem Strohhalm. zehnmal länger als sie selbst, und sagte: "Das Leben ist nichts anderes als Mühsal und Arbeit."


Geschäftig kam eine Biene von einer honighaltenden Blume auf der Wiese zurück und meinte dazu: "Nein, das Leben ist ein Wechsel von Arbeit und Vergnügen."
Wo so weise Reden geführt wurden, steckte auch der Maulwurf seinen Kopf aus der Erde und brummte: "Das Leben? Es ist ein Kampf im Dunkeln."
Nun hätte es fast einen Streit gegeben, wenn nicht ein feiner Regen eingesetzt hätte, der sagte: "Das Leben besteht aus Tränen, nichts als Tränen." Dann zog er weiter zum Meer. Dort brandeten die Wogen und warfen sich mit aller Gewalt gegen die Felsen und stöhnten: "Das Leben ist ein stets vergebliches Ringen nach Freiheit."
Hoch über ihnen zog majestätisch der Adler seine Kreise. Er frohlockte: "Das Leben, das Leben ist ein Streben nach oben." Nicht weit vom Ufer stand eine Weide. Sie hatte der Sturm schon zur Seite gebogen. Sie sagte: "Das Leben ist ein Sichbeugen unter einer höheren Macht."
Dann kam die Nacht. Mit lautlosen Flügeln glitt der Uhu über die Wiese dem Wald zu und krächzte: "Das Leben heißt: die Gelegenheit nutzen, wenn andere schlafen."
Und schließlich wurde es still in Wald und auf der Wiese.
Nach einer Weile kam ein junger Mann des Weges. Er setzte sich müde ins Gras, streckte dann alle viere von sich und meinte erschöpft vom vielen Tanzen und Trinken:
"Das Leben ist das ständige Suchen nach Glück und eine lange Kette von Enttäuschungen."
Auf einmal stand die Morgenröte in ihrer vollen Pracht auf und sprach:
 Wie ich, die Morgenröte, der Beginn des neuen Tags bin,
so ist das Leben der Anbruch der Ewigkeit."
 

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(Autor leider unbekannt)
Bild: Pixabay
 

Samstag, 25. Februar 2023

Das Hemd des Glücklichen

 

Ein König war krank und sagte: "Die Hälfte des Reiches gebe ich dem,
der mich gesund macht". Da versammelten sich alle Weisen und überlegten,
wie man den König gesund machen könne. Doch keiner wusste wie.
Nur einer der Weisen sagte, dass es möglich sei, den Herrscher zu heilen.
Er meinte: "Man muss einen glücklichen Menschen ausfindig machen,
dem das Hemd ausziehen und es dem König anziehen.
Dann wird der König gesund".

Und der König schickte überall hin, dass man in seinem weiten Reich
einen glücklichen Menschen suche. Aber die Beauftragten fuhren lange
im ganzen Reich umher und konnten keinen Glücklichen finden.
Nicht einen gab es, der zufrieden war. Wer reich war, war krank;
wer gesund war, war arm; wer gesund und reich war, der hatte ein
böses Weib, und bei dem und jenem stimmte es mit den Kindern nicht.
Über irgendetwas beklagten sich alle.

Aber einmal ging der Sohn des Königs spätabends an einer armseligen
Hütte vorbei und hörte jemanden sagen: "Gottlob, zu tun gab es heute
wieder genug, satt bin ich auch und lege mich nun schlafen.
Was braucht es mehr?"
Der Königssohn freute sich, befahl seinen Dienern, diesem Menschen
das Hemd auszuziehen und ihm dafür soviel Geld zu geben, wie er wolle,
und das Hemd gleich dem König zu bringen. Die Diener gingen eilends
zu dem glücklichen Menschen hin und wollten ihm das Hemd ausziehen.
Aber der Glückliche war so arm, dass er nicht einmal ein Hemd besaß!
 
Leo N. Tolstoi
 
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Bild: Pixabay

Donnerstag, 23. Februar 2023

Einsamkeit

 

Nun ist es still da draußen,
Die Wälder rauschen sacht,
Die Ströme murmelnd rinnen,
Es geht ein tiefes Sinnen
Hin durch die tiefe Nacht.

Des Windes leises Wehen
Säuselt im hohen Ried;
Die Sterne droben kreisen,
Tönend in ewigen Weisen
Ihr ewig großes Lied.

Die Welt ist groß und prächtig
Zu solcher stillen Zeit;
Es schweigt das eigne Denken,
Es will ins All versenken
Sich stumm das eigne Leid.

Konrad von Prittwitz-Gaffron
deutscher Schriftsteller
(1826 - 1906),
 
  
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Bild: Pixabay

Freitag, 10. Februar 2023

Der goldene Schlüssel

 
 
Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, musste ein armer Junge
hinausgehen und Holz auf einem Schlitten holen. Wie er es nun
zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch
nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bisschen
wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte,
fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel
wäre, müsste auch das Schloss dazu sein, grub in der Erde und fand ein
eisernes Kästchen. Wenn der Schlüssel nur passt! dachte er, es sind gewiss
kostbare Sachen in dem Kästchen. Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da,
endlich entdeckte er eins, aber so klein, dass man es kaum sehen konnte.
Er probierte, und der Schlüssel passte glücklich. Da drehte er einmal herum,
und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen, und den Deckel
aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen
in dem Kästchen lagen.

Gebr. Grimm
 
 
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Bild: Pixabay
 

Mittwoch, 25. Januar 2023

Sternenhimmel

 

Wenn man den Sternenhimmel betrachtet,
steht eine Schönheit vor uns auf, die uns entzückt und beseligt.
Und es wird ein Gefühl in unsere Seele kommen,
das alle unsere Leiden und Bekümmernisse majestätisch überfüllt
und verstummen macht und uns eine Größe und Ruhe gibt,
der man sich andächtig und dankbar beugt.
Adalbert Stifter


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Freitag, 13. Januar 2023

Die alte Frau und die Zwiebel

 
 
Eine Fabel von Dostojewski
Es war ein altes Weiblein, die war geizig und grimmig und hatte für niemanden jemals ein gutes Wort. Gewohnt hat sie draußen im Wald; und sie wollte mit niemandem etwas zu tun haben.

Irgendwann ist sie gestorben, und weil sie so geizig und böse war, drum warf man sie in den Feuersee. Da kommen alle rein, die im Leben nie etwas Gutes getan haben. Da waren schon viele drin, böse Sünder, die auch im Feuersee noch geschimpft haben auf diesen Ort und dass das alles ungerecht ist und so weiter; und am lautesten geschimpft hat unser Weiblein.

Am Rand vom See standen zwei Engel, und die haben die Alte im See gesehen - und der eine zuckte zusammen und rief: "Um Himmels willen, die Alte dahinten, die müssen wir rausholen!" Darauf sagt der andere: "Wieso denn? Die hat doch wirklich nie im Leben ein freundliches Wort gesprochen!" Und er nahm eine lange Stange und schob einen Sünder zurück in den See, der gerade zum Rand gekommen und schon ein bisschen rausgekrochen gewesen war aus dem Becken.

Aber der andere wurde hektisch, "Um Himmels willen, doch! Einmal hat sich ein Bettler hinaus verirrt in den Wald zu der bösen Frau. Er hat großen Hunger gehabt und bei ihr geklopft, ganz mutig; und sie war so verblüfft, sie hat sich gebückt und im Vorgarten aus der Erde eine Zwiebel gezogen, und die hat sie dem Bettler geschenkt."
"Eine gute Tat! Immerhin! Dann wollen wir sie retten."
Und der Engel schob die Hand in sein weißes Gewand - und zog die Zwiebel daraus hervor, und die hielt er über den Feuersee dem Weiblein hin und rief, "halt dich dran fest - dann zieh ich dich daran raus".

Und die Alte packte die Zwiebel und hielt sich fest, und der Engel zog - und die Alte merkte, da griffen alle anderen aus dem See nach ihren Beinen und krallten sich daran fest, und plötzlich hingen unzählige Leute an dieser kleinen Zwiebel! Der Engel zog trotzdem weiter, und vielleicht wäre alles gut gegangen, wer weiß? - aber die Alte fing an mit den Beinen zu strampeln und um sich zu treten, "Lasst los! Lasst mich sofort aus! Das ist meine Zwiebel! Die rettet nur mich allein und sonst keinen!" und das Gehampel war für die kleine Zwiebel schließlich zu viel - sie brach in der Mitte entzwei und die Frau stürzte zurück in den Feuersee.
 
 
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Bild: Pixabay