Ein Weihnachtsmärchen von
Paula Dehmel
Ein weiser Mann aus dem
Morgenland hatte nach Jahren mühseliger Arbeit aus den Gesteinen der Erde einen
Stern zusammengesetzt, in dem die feinsten Kräfte des Lebens gebannt waren. Was
dem Weisen Schönes und Wertvolles begegnet war, hatte er in Kristallen
verwandelt und dem Sterne eingefügt.
Als der Wunderstern
vollendet war, ließ er auf der Landstraße, die von Mekka nach Medina führt,
eine prächtige Schau- und Kaufhalle errichten. Hoch oben in der Kuppel
befestigte er seinen Stern. Um ihn herliefen goldene Lettern, die in einer
fremden Sprache folgenden Spruch trugen:
Weib
oder Mann,
sieh
mich gläubig an,
dann
leuchtet tief,
was
verborgen schlief,
dann
wird zum Kern der Dinge Gestalt,
dann
wird zur Ohnmacht fremde Gewalt,
dann
wird zum Helden das Kind, der Tor,
dann
klimmt ein Mensch zu Gott empor!
Tausende von Wanderer
kamen täglich durch die Wunderhalle und bestaunten die Pracht und die Schätze,
die der weise Mann darin aufgehäuft hatte. Sie betasteten das künstliche
Gitterwerk vor den Schaukästen, die farbenprächtigen Teppiche an den Wänden,
die herrlichen Sammlungen der Waffen und edlen Gesteine in den Nischen - jedoch
den Stern hoch oben in der Deckenwölbung sah niemand gläubig an. Wohl streifte
ab und zu ein halber Blick den hellen Fleck, aber man hielt ihn für wertloses
Glas, und niemandes Auge blieb an ihm haften. Immer kehrten die Blicke in die
prächtige Halle unten zurück. Da hingen auch zwei große Bilder an den Wänden.
Vor diesen Bildern stand die Menge immer dichtgedrängt mit Staunen und
Geflüster.
Das eine Bild stellte den
Tod dar, wie er an einer langen Kette vorbeimarschierte und mit der Sense einem
Soldaten nach dem andern den Kopf abschlägt. Die Soldaten aber - und das war
grausig anzusehen - standen alle stramm wie auf dem Kasernenhof, und die ihren
Kopf noch hatten, machten die Augen zu. Vorn, auf dem Feuer einer platzenden
Granate, saß grinsend der Teufel und schwenkte sein rotes Fähnchen.
Das Bild auf der andern
Seite war ein Gastmahl in einer offenen Veranda. Eine Menge schön geputzter
Herren und Damen saßen da zu Tische. Erlesene Speisen und edle Weine standen
vor ihnen. Sie aßen und lachten miteinander und warfen Knochen und Brotstücke
über die Brüstung. Draußen standen viele arme Leute und fingen die Brocken auf;
einige mit Hass in den Augen, andere mit tiefer Verbeugung. Daneben standen
etliche, die sahen traurig oder ingrimmig zu, und einer ballte die Faust nach
dem Tisch mit den Speisen.
Diese beiden Bilder zogen
die Menschen immer wieder machtvoll an, aber der Weise aus dem Morgenland sah
kopfschüttelnd zu; die Halle war schon seit Jahren fertig, und noch kein Pilger
hatte den Stern der Decke gläubig angesehen.
Da kam eines Tages ein
Findelkind der Armut in das Gewölbe. Heimatlos und elternlos war der Knabe
ausgezogen, aber Augen waren voll Sonne und sein Herz voll Güte. Er sang in den
blauen Himmel hinein, und sein trocknes Brot mundete ihm wie köstliches Manna.
Ehrfurchtsvoll trat er in das hohe Tor, ließ seine staunenden Blicke langsam
durch das Gewölbe gleiten und sah entzückt auf zur Kuppel. Da war ihm, als ob
das ganze Bauwerk fern oben in der Mitte zusammenfloss, und als ob sich goldene
Ströme in langen Bahnen aus dem leuchtenden Sterne in die Halle zurück ergössen.
Immer wieder sah er hinab - hinauf - seine Augen wurden weit vor staunender
Erkenntnis, und wie zum Gebet schlossen sich seine Hände.
Da erfüllte sich das
Wunder, das dem Sterne innewohnte: Er fing an sich zu drehen und dem Knaben
sein verborgenes Farbenspiel zu zeigen. Weich und glühend dehnten sich seine
bunten Kreise durch das Gewölbe; und was sie berührten, wurde von eigenem Leben
erfüllt oder kristallen durchsichtig und offenbarte dem Beschauer sein
innerstes Wirken. Da faltete der einsame Knabe gläubig die Hände und betete:
"Gelobt sei Allah!"
Wie ein Träumender ging er
zuerst durch das Gewimmel der anderen Pilger; sie wichen scheu vor ihm, er aber
merkte es nicht.
Bald jedoch erfüllte sich
die Verheißung des Weisen an ihm; es war, als ob ein geheimes Licht in Menschen
und Dinge hineinleuchtete. So sah er vieles, was den andern verborgen war, und
was er selbst nie vorher gesehen hatte. Auch die Bilder in der Halle sah er mit
neuen Augen. Auf dem Bilde mit den geköpften Soldaten erblickte er hinter allen
Gräueln den Friedensengel; und auf dem Bilde der Reichen und Armen sah er den
Geist der Gerechtigkeit, der eben das Schwert aus der Scheide zog. Fern aber,
zwischen beiden Bildern, tat sich ihm die Wand auf, und er sah ein neues Land
in der Dämmerung liegen, wo stolze, gesunde Menschen ihrem Tagewerk und ihrer
Muße nachgingen.
Und er sah das Lebendige
und das Tote, und erkannte, dass ein Weizenkorn mehr sei als ein Goldkorn.
Und sah den Krieg und die
Bitternis, und wusste, dass der Frieden ihr letztes Kind sein würde.
Und er sah, dass der Tod
nur ruhendes Leben und das Endliche nur ein Widerspiel des Unendlichen ist.
Und er wuchs und tat
seinen Mund auf und sagte den Pilgern, was er sah.
Und es ging ein Leuchten von
ihm aus, sodass sie ihm glaubten und ihm anhingen.
Er hatte den Stern in der
Mitte gläubig angesehen.
Paula Dehmel ( 1862 bis 1918 )
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